s_innzeit - der Wissenschaftspodcast zur Sozialen Arbeit

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00:00:00: Music.

00:00:12: Marina (M): Hallo an allen an den Endgeräten! Willkommen zu s_innzeit, dem Wissenschaftspodcast zur Sozialen Arbeit vom Transfernetzwerk Soziale Innovation. Mein Name ist Marina und ich sitze hier wieder einmal mit meinem Mit-Moderator Jens zusammen und tatsächlich sitzen wir diesmal live zusammen, das heißt: Ich kann Jens direkt mir gegenüber zuwinken, auf gebührenden Abstand natürlich, und das mache ich jetzt auch. Hallo Jens!

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00:00:32: Jens (J): Hallo Marina, schön dich mal wieder von Angesicht zu Angesicht zu sehen.

00:00:41: M: Ja, das tut auf jeden Fall gut und wie ihr wisst: Wir haben eine längere Podcast-Pause gemacht und waren dabei aber auch kreativ unterwegs, sodass ich jetzt direkt am Anfang mit Änderungen zu unserem Podcast einsteigen werde. Wir haben ein neues Cover-up, dass ihr bei Instagram unter transfernetzwerk.s_inn oder auf unserer Webseite bewundern könnt oder natürlich auch bei den jeweiligen Playern sehen könnt. Und gleich eine kleine Geschichte: Das Bild ist bei einem kreativen Teammeeting entstanden, nach bzw. vor unserem Urlaub. Das heißt: Wir waren entweder erholt oder in Vorfreude auf den Urlaub. Ja, was ich noch sagen möchte, was mir wichtig ist, wir sitzten natürlich nicht alleine; sondern haben wie immer Stefan mit dabei, sowie zwei Gäste, aber dazu kommen wir gleich. Und Stefan schaut ganz konzentriert auf den Regler und schaut mich auch immer wieder mal kritisch an, weil ich bin tendenziell jemand, der immer den Kopf gerne hin und her bewegt. Wenn ich mich vom Mikrofon zu weit entferne, dann guckt Stefan mich kritisch an und ohne ihn wäre das hier natürlich nicht möglich. Und ich habe von Änderungen gesprochen und die letzte Änderung ist: Wir arbeiten nun in der zweiten Staffel von s_innzeit, die in der heutigen Folge startet, mit Themenblöcken und der heutige bzw. jetzige Block trägt den Namen: "Prägend für das ganze Leben - Einschnitte und Chancen im Kinder- und Jugendalter" Wobei wir diesen Blockk auch weiter fassen wollen, das heißt: Wir sprechen auch über Einschnitte und Chancen im Kinder- und Jugendalter, die eben Auswirkungen bis hin ins Erwachsenenalter haben. Und da ist es uns ja auch noch mal wichtig das zu betonen. Ja, und jetzt ganz viel geredet, Jens schaut schon auf die Uhr: Ich würde sagen, wir starten jetzt mit der heutigen Folge zum Thema "Aufwachsen mit psychisch erkrankten Eltern!. Und ich sehe schon, du hast mir etwas mitgebracht, Jens.

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00:02:35: J: Ja, liebe Marina, das habe ich wohl. Aber ich möchte noch zwei weitere Anmerkungen machen: Wir haben nämlich auch noch die Mira hier bei uns, die fleißig Fotos schießt und das Cover-art, was du gerade angesprochen hast, das ist eben von der Mira gemacht. Und ja, so sieht das aus, wenn hier ein Profi am Werk ist. Und auch von mir noch mal der Hinweis: Ja, ihr könnt euch also auf  weitere Folgen zum Thema Kinder und Jugend aus verschiedenen Bereichen freuen. Und ja, du hast es gerade angesprochen: Ich habe was mitgebracht, vielleicht ein kleines Zitat zum Einstieg aus einem Buch. Das Buch heißt: "Unsichtbare Narben - erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern". Und das Buch ist von Johannes Jungbauer, einem unserer Gäste heute und bevor wir unsere Gäste auch vorstellen und mit ins Gespräch holen , vielleicht eben dieses Zitat. "Indem ich meine Geschichte erzählte und mir die Geschichten der anderen anhöre, lerne ich auch sehr viel über mich und habe das Gefühl, dass ich für meine Kindheitserlebnisse endlich die passenden Worte finden kann. Wo vorher Schweigen und Sprachlosigkeit herrschte, wird etwas besprechbar und erscheint dadurch weniger bedrohlich. Ich habe, wie viele andere Kinder psychisch kranker Eltern sehr lange gebraucht bis ich mich getraut habe meine Geschichte zu erzählen. Und auch, bis ich gelernt habe überhaupt die passenden Worte zu finden." Das ist ein Zitat aus dem Buch von Johannes Jungbauer und Katharina Heitmann. In diesem Buch geht es darum, dass die Geschichten der Menschen, die mit psychisch kranken Eltern aufgewachsen sind, sichtbar gemacht werden indem Interviews durchgeführt wurden. Und ja, Johannes wird gleich noch was zu dem Buch erzählen und ich möchte vielleicht jetzt ihn als unseren ersten Gast einmal kurz vorstellen: Prof. Dr. Johannes Jungbauer ist studierter Psychologe und arbeitet seit 2004 an der katholischen Hochschule NRW als Professor im Lehrgebiet Psychologie. Er leitet mittlerweile seit 11 Jahren das Institut für Gesundheitsforschung und soziale Psychiatrie, welches er zusammen mit Albert Lenz aus Paderborn gegründet hat. Professor Jungmann hat unter anderem zum Thema "erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern, sowie dessen langfristige Auswirkungen auf Biografie, Beziehung und Persönlichkeit" geforscht. Also, wir haben uns in einem kurzen Gespräch schon vorher kennengelernt, deswegen haben wir beschlossen und zu duzen in diesem Podcast. Und vielleicht möchtest du, Marina, Lisanne vorstellen.

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00:04:53: M:  Genau, du hast jetzt eine wunderbare Einführung gemacht. Ich würde sehr gerne Lisanne vorstellen. Wir haben nämlich noch eine Gästin dabei, und zwar Lisanne Steinbacher. Sie ist im Vorstand von Seelenerbe in Berlin, leitet auch ein Selbsthilfeprogramm, hat ein Schulprojekt in Berlin auch mitbegleitet und wird uns auch hier von ihrer Arbeit erzählen bei Seelenerbe e.V.. Vielleicht auch eine kurze Beschreibung: Der Verein tritt für die Belange und Interessen der erwachsenen Kinder von Eltern mit psychischer Erkrankung ein. Denn lange Zeit haben diese Kinder und Jugendliche kaum Beachtung in Hinblick auf ihre eigenen Bedürfnisse. Und der Verein Seelenerbe e.V. hat sich zur Aufgabe gemacht, durch den Austausch von Informationen und erfahrungsbasierten Wissen dazu beizutragen, auf die spezifische Situation erwachsener Kinder von Eltern mit psychischer Erkrankung aufmerksam zu machen. Ich glaube, du wirst da auch noch einiges berichten können, Lisanne. Deswegen ersteinmal auch von mir: Herzlich willkommen Johannes und herzlich willkommen Lisanne, wir freuen uns sehr, dass ihr beide da seid.

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00:05:56: Jhannes (JN): Ja hallo und herzlichen Dank für die freundliche Vorstellung. Wie gesagt: mein Name ist Johannes Neubauer und ich bin Professor für Psychologie an der katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Aachen und ja neben meiner Tätigkeit als

00:06:09: Hochschullehrer bin ich mittlerweile schon seit gut 20 Jahren als Wissenschaftler tätig und beschäftige ich mich mit dem

00:06:17: Thema  Auswirkungen psychischer Erkrankungen auf

00:06:20: Familien, Familienmitglieder. Das heißt: Was macht eine psychische Erkrankung einerseits mit dem Betroffenen selbst, aber auch mit deren Partnern, Eltern und Kindern?

00:06:30: M: Danke schön, Johannes. Vielleicht auch mal ganz kurz zu dir, Lisanne: Möchtest du irgendwas ergänzen bevor es jetzt sozusagen losgehen kann? Etwas, das ich vielleicht im Eifer des Gefechts vergessen habe? Das kann auch durchaus mal vorkommen.

00:06:42: L: Vielen Dank. Ichh freue mich auch sehr hier zu sein. Ich finde auch solche Projekte besonders wichtig, das in die Öffentlichkeit zu tragen. Und da bin ich eben

00:06:49: als Vorstand besonders interessiert da dran, dass eben auch

00:06:53: immer wieder Öffentlichkeitsarbeit zu diesem Thema betrieben wird. Deshalb ist mir es eine Herzensangelegenheit heute hier zu sein. Ich freue mich sehr über

00:07:00: meinen Interviewpartner hier, Herr Jungbauer. Johannes, wir wollen uns jetzt ja duzen. Genau, also ich bin sehr froh. Ich denke, dass

00:07:07: war eine gute Zusammenfassung. Ich bin in der Selbsthilfe an sich nicht mehr so tätig, also der Vereinsvorstand nimmt mich jetzt ausreichend ein und alle Tätigkeiten, die darum herum gehen, denn neben Interviews schreiben wir ja auch noch Artikel und versuchen sehr aktiv zu sein.

00:07:22: Aber ansonsten, vielen Dank. Das war eine schöne Vorstellung und ich freue mich auf das Gespräch.

00:07:27: JK: Ja, wir freuen uns auch, dass ihr hier seid und uns war es eben wichtig, da verschiedene Perspektiven zu diesem Thema zu Wort kommen zu lassen. Und vielleicht mal als Einstieg: Johannes, ich habe ja gerade aus deinem Buch zitiert. Wie kam es dazu, dass du gesagt hast: "Ich möchte das Buch schreiben". Was hat dich dazu motiviert?

00:07:37: JN: Dazu muss man vielleicht auch die Geschichte des Buchs erzählen.

00:07:47: Die Idee zu dem Buch ist entstanden in einem Forschungsprojekt, dass wir vor einigen Jahren hier an der katholischen Hochschule durchgeführt haben. Das war ein wissenschaftliches Forschungsprojekt, wo wir

00:07:59: mehrere hundert erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern befragt haben im Hinblick auf ihre Kindheitserfahrungen, im Hinblick auf

00:08:07: ihren weiteren Lebensweg und auch die Bedürfnisse, die sie vielleicht auch haben im Hinblick auf ihr heutiges Leben.

00:08:13: Ja,  und in diesem Forschungsprojekt ist die Idee entstanden "Mensch, das sollten wir im Grunde einer

00:08:19: breiteren Leserschaft zugänglich machen." Dieses Buch, das du vorhin erwähnt hast, "Unsichtbare Narben" ist ja kein wissenschaftliches Buch in dem Sinne, sondern es ist ein

00:08:28: , ich sag mal, allgemein verständliches Buch, dass wir

00:08:31: vielleicht in erster Linie auch für Betroffene selbst geschrieben haben. Also wir wünschen uns natürlich, dass möglichst viele erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern dieses Buch auch lesen und vielleicht ins Gespräch kommen nach der Lektüre dieses Buches. Für deren Freunde, Partner

00:08:46: , Angehörige, die dadurch vielleicht noch mal eine andere

00:08:50: Art von Verständnis für die Betroffenen bekommen und natürlich für möglichst viele interessierte Personen. Ja, weil ich glaube,

00:09:00: dass alle, die mit Kindern psychisch erkrankter Eltern in Berührung kommen, so eine Art von Grundwissen eigentlich gut gebrauchen können, wie es

00:09:10: diesen Kindern geht.

00:09:11: M: Wir haben ja auch - und das passt, denke ich da auch ganz gut - über Seelenerbe gesprochen, die auch einen großen Teil dazu beigetragen haben, dass

00:09:21: dieses Buch von dem du gesprochen hast, auch erst  entstanden ist. Lisanne, wir haben über den Verein gesprochen, du bist im Vorstand tätig. Mich würde jetzt auch mal interessieren,

00:09:30: warum du dich in dem Verein Seelenerbe engagierst und wie es dazu gekommen ist und wie deine Arbeit dort aussieht. Vielleicht auch ergänzend zu dem, was Johannes gerade gesagt hat.

00:09:41: L: Genau; in dem Buch kommen ja tatsächlich glaube ich auch zwei unserer Vereinsmitglieder vor.

00:09:47: Also, unser Verein ist nicht besonders groß. 2014 ist er entstanden und es ist auch noch nicht so ein sehr großer Verein, aber die, die dort aktiv sind

00:09:55:  ist es halt wirklich ein großes Anliegen sich dafür überhaupt einzusetzen. Denn viele verschwinden natürlich so ein bisschen

00:10:02: im Alltag, die sind eingenommen von ihren Erfahrungen und ihrem eigenen Leben und für die ist es sehr schwer neben diesem Leben, das sie bewältigen müssen noch irgendwelche Aktivitäten voranzutreiben. Das merken wir auch sehr

00:10:16: gut im Vorstand: Wir sind sieben Vorstandsmitgliedern und das muss auch so sein, denn wir brauchen viel Kapazität einfach uns gegenseitig auch immer wieder auf den Weg zu bringen.

00:10:26: Genau, wie ich dazu gekommen bin: Das war mir eben auch ein Anliegen, ich bin das erste mal zu einem Workshop-Wochenende gefahren vor, ich glaube, vier Jahren, also der Verein war noch relativ jung. Ich glaube, dass war das zweite Workshop-Wochenende

00:10:39: und als ich dort ankam und

00:10:42: es gab einen Beachflag oder so ein Plakat, wo eben der Name Seelenerbe e.V. drauf stand und eben als Untertitel "Verein erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern".

00:10:54: Und es wurde das erste Mal richtig greifbar für mich, dass das eine Bedeutung hat. Also bis dahin

00:11:00: schlummerte dieses Thema sehr unterschwellig, ich hatte zwar schon in Selbsthilfegruppen über meine Geschichte gesprochen und mich mit anderen ausgetauscht, aber das Thema war immer so ein bisschen so ein Nischen-Thema für mich. Und als ich dort ankam, hatte ich das Gefühl: "Boah, jetzt nimmt es heute mein ganzes Wochenende ein, das nur dieses

00:11:19: Thema". Das bedeutet nicht, dass es immer dann thematisiert wird, aber es ist ein ganz anderes Gefühl mit Menschen zu sprechen und

00:11:27: von Anfang an zu wissen, dass die eine ähnliche Geschichte haben, die natürlich nie richtig ähnlich ist, aber mit den Menschen so eine ähnliche Basis zu haben.

00:11:35: Und das war ein ganz besonderes Gefühl für mich, dort irgendwie so viel Raum zu haben für dieses Thema, denn im Leben hat es oft

00:11:44: eben gar nicht so einen großen Raum, sondern es ist immer einfach da. Für mich war das einfach immer da, weil meine Mutter schon von meiner Geburt an erkrankt war und dadurch

00:11:55: war das nie so, dass das Thema irgendwie groß aufgemacht wurde. Genau und deshalb war es mir ein Anliegen, weil ich dachte:

00:12:02: "Ich möchte das auch andereen Menschen ermöglichen, dieser Erfahrung zu machen, zu merken, dass das Thema auch da sein darf.

00:12:06: Und es ist auch kein Problem, wenn es da ist. Es ist kein Tabuthema in dem Sinne, sondern ich darf dem Raum geben.

00:12:15: Ja und sonst: Unsere Vorstandsarbeit, wie sieht die aus? Das ist eine gute Frage. Also wir treffen uns ungefähr einmal monatlich für so eine virtuelle Vorstandssitzung.

00:12:23: Wie gesagt, wir sind sieben Vorstände und wir versuchen auch

00:12:26: eigentlich immer alle da zu sein, das ist uns auch ein Anliegen uns einfach menschlich nah zu sein und uns gegenseitig zu unterstützen, zu wissen, was die anderen in ihrem Leben gerade erleben.

00:12:35: Aber eben immer wieder Themen voranzubringen, es gibt Anfragen für Zeitungsartikel oder für Artikel in Zeitschriften.

00:12:42: , wie jetzt solche Interviewanfragen oder auch jedes Jahr dieses Workshop-Wochenende, was wir versuchen zu organisieren. In diesem Jahr haben wir das online organisiert, das war auch eine sehr

00:12:52: interessante Erfahrung für uns. Genau, also es gibt immer wieder kleine Projekte oder auch größere, jetzt gerade wurde ein großes Projekt tatsächlich ganz frisch an den Start gebracht, das nennt sich " Vice" und

00:13:03: da geht es eben auch darum Erfahrungswissen von

00:13:07: Betroffenen, in dem Fall eben erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern, in die Hilfesysteme rein zu tragen.

00:13:13: Dort möchte eben wir, also die Menschen, die in unserem Verein oder auch nicht im Verein tätig sind, aber die eben dieses Thema als Lebensthema haben, zu stärken darin,

00:13:23: auch professionell darüber zu reden mit Menschen, die mit Kindern in Kontakt sind, die

00:13:28: auch Eltern haben, die psychisch erkrankt sind. So das waren jetzt viele Nebensätze. Also es gibt viel zu tun, aber wir sind eben ein wachsender Verein.

00:13:39: JK: Ja super, danke. Da schonmal der Hinweis direkt an alle: Die Hinweise zu den ganzen Projekten

00:13:45: oder auch zu den Büchern oder auch zu dem Verein Seelenerbe oder andere Informationen, findet ihr wie immer in der Podcastbeschreibung. Dort könnt ihr auf alle Informationen zugreifen.

00:13:54: Johannes, Liisanne hat ja gerade gesagt, dass es schön war sich auch mit Betroffenen auszutauschen und zu sehen

00:14:00: "Okay, da gibt's jemanden, die haben ähnliche Geschichten wie ich." Von wie vielen Fällen reden wir denn jetzt eigentlich so in Deutschland? Wie viele psychisch erkrankte Eltern gibt es? Und dementsprechend wie viele Kinder? JJ: Ja, das ist eine gute Frage. Es gibt Schätzungen darüber, also die deutsche Kinderkommission

00:14:15: geht von 500 000 Kindern

00:14:18: aus, die mit einem Elternteil aufwachsen, mit mindestens einem Elternteil aufwachsen, das eine psychiatrische Diagnose hat. Wenn wir wir allerdings auch

00:14:27: "leichtere", ambulant behandelbare psychische Erkrankungen und auch die Suchterkrankungen mit einbeziehen, dann kommen wir auf eine Schätzung von 3000000 Kindern.

00:14:37: Ja, das ist natürlich eine immense Zahl, das macht die Tragweite dieses Themas deutlich. Also viele sind betroffen, aber gleichzeitig muss man sagen, das ist ein Thema, das viel zu selten besprechbar ist und besprochen wird.

00:14:51: Zum Beispiel in den Familien selbst und das ist etwas, was viele Kinder psychisch erkrankter Eltern berichten: "Bei uns zu Hause

00:14:59: wurde nicht darüber gesprochen" oder "Es durfte auch nicht darüber gesprochen werden".

00:15:03: Und deswegen dauert es oft viele Jahre bis die Kinder, oft erst als Jugendliche oder als junge Erwachsene die Diagnose ihres Elternteils erfahren.

00:15:14: Oder erstmals darüber sprechen mit ihren Eltern oder mit anderen Menschen, weil das eben solange einfach nicht besprechbar war. Und insofern ist es für viele Betroffene

00:15:24: dann eine wirklich wichtige Erfahrung

00:15:27: über dieses Tabuthema, das ja manchmal so eine Art Familiengeheimnis regelrecht ist, erstmals sprechen zu können. Das wirkt sehr befreiend.

00:15:35: JK: Psychische Erkrankunen sind sind ja auch grundsätzlich eher etwas Schambehaftetes. Man traut sich nicht, ja es ist einfacher zu sagen: "Mein Bein ist kaputt, ich kann nicht arbeiten" als zu sagen: "Ich fühle mich seelisch vielleicht nicht gut."

00:15:45: Könnt ihr denn, auch vielleicht an euch beide die Frage, Lisanne an dich zuerst, könnt ihr da auch einen Trend erkennen, dass sich da dieses Tabu so ein bisschen auflöst und nach und nach, dass es den Menschen, sag ich mal, in der Breite leichter fällt über sowas zu sprechen?

00:15:57: L: Ich hoffe das natürlich sehr und ich beobachte auch,

00:16:00: da ich ja eben das Thema auch so immer wieder auf meinem Schirm habe, dass das Thema psychische Gesundheit an sich immer eine größere Rolle spielt und die Menschen da mehr drauf achten.

00:16:12: Ob das dann im Alltag wirklich dazu führt, dass jemand, der dann eingeschränkt arbeiten kann, der halt vielleicht.

00:16:19: aufgrund von Depressionen lange Zeiten ausfällt oder eben bestimmte Alltagsaufgaben nicht bewältigen kann, dann tatsächlich

00:16:28: mit mehr Verständnis rechnen kann, das weiß ich nicht so ganz genau. Denn es fällt, glaube ich, trotzdem schwer, wenn man merkt die Kollegin ist monatelang nicht da, dafür wirklich noch

00:16:39: enug Verständnis aufzubringen, wenn man selber auch immer wieder an die Überlastungs-Grenze geht. Also ich glaube, das

00:16:45: ist eine schwierige Frage und das wird sich immer wieder auf tun, aber ich glaube, wenn jeder bei sich selbst anfängt und schaut

00:16:52: seine psychische Gesundheit und seelisches Gleichgewicht mehr im Blick zu haben, dann ist es für alle ein Gewinn. Weil dann kann man auch besser verstehen, wenn es dem anderen mal nicht gut geht. JJ: Also das ist, glaube ich, auch wichtig, dass Freunde, Kollegen,

00:17:06:  Familienmitglieder, Bekannte

00:17:08: das ansprechen oder sich auch trauen das anzusprechen. Und gehört auch ein Stück weit dazu, dass man sich das traut und, dass man etwas darüber weiß auch.

00:17:18: Weil leider, auch wenn sich da viel getan hat in den letzten Jahren, gibt es immer noch viel Unwissen und Unverständnis, was psychische Erkrankungen angeht.

00:17:24: Und das, was Jens vorhin erwähnt hat, dass also psychische Erkrankungen immer noch mit einem Stigma behaftet sind, das trifft nach wie vor so zu.  Es ist viel leichter zu sagen: "Ich bin irgendwie

00:17:36: beim Fensterputzen von der Leiter gefallen und habe mir das Bein gebrochen" als zu sagen: "Ich habe eine Depression und bin nicht arbeitsfähig".

00:17:43: M: Wenn wir jetzt auch über den Gesundheitszustand oder das Befinden sprechen, also wie es erwachsenen Kindern psychisch erkrankter Eltern eigentlich geht. Ich finde auch diese Kombination mit Erwachsenen und Kind sehr interessant, das  habe ich auch bei Seelenerbe

00:17:56: gelesen und das zeigt auch eben diese Prozesshaftigkeit. Oder

00:18:00: auch, Johannes ich zitiere hier den Titel eines Artikels: "Der lange Schatten der Kindheit". Das fasst das ganz gut zusammen auch.

00:18:07: Wenn wir hier von dem Wohlbefinden reden, welche Langzeitfolgen sind denn bei

00:18:11: diesen Erwachsenen häufig zu erkennen, die mit psychisch erkrankten Eltern aufgewachsen sind?

00:18:18: Man hört da auch oft das Wort Parentifizierung. Kannst du vielleicht hier auch diesen Begriff erklären oder passt der da eigentlich gar nicht dazu?

00:18:26: JJ: Das waren jetzt mehrere Fragen auf einmal, ich versuchte jetzt nacheinander mal so ein bisschen abzuarbeiten. Also zunächst zu dem Begriff Parentifizierung, der fällt ja in dieser Diskussion immer wieder. Damit ist gemeint, dass

00:18:39: psychisch erkrankte Eltern, zumindest zeitweise, in vielen Fällen mit der Erziehung ihrer Kinder und auch der Befriediung der Grundbedürfnisse der Kinder überfordert sind. Die schaffen das einfach nicht. Da

00:18:50: springen sozusagen dann häufig die Kinder ein, indem Sie z.B. auch den Haushalt schmeißen. Wir haben mit 9-jährigen gesprochen, die die Wäsche gewaschen haben und gekocht haben für ihre jüngeren Geschwister oder mit 12-jährigen Kindern,

00:19:04: die, wenn es mal wieder soweit ist, die wissen schon wie es läuft, die dann

00:19:09: den Notruf rufen. "Meiner Mama geht es wieder ganz schlecht, die muss ins Krankenhaus!" Dass die Kinder da Verantwortlichkeiten übernehmen,

00:19:17:  viel zu früh eigentlich, die eigentlich in der Familie normalerweise die Eltern oder die Erwachsenen ausüben. Und eine unserer Studienteilnehmer hat es mal ganz pointiert auf den Punkte gebracht, sie hat gesagt: "Ich muss zu oft die Mutter meiner Mutter sein."

00:19:30: Ja, das meint dieser Fachbegriff Parentifizierung und ja, wenn man etwas drastisch ausdrücken wollte, dann könnte man sagen, dass

00:19:38: den Kindern viele Jahre ihrer Kindheit auch gestohlen wurden, weil sie nie unbefangen Kind sein durften, sondern immer im Grunde auch in so einer Art Standby-Modus waren. "Vielleicht muss ich gleich wieder schauen?" Also da war immer so ein wachsamer Blick.

00:19:55: "Vielleicht muss ich jetzt gleich wieder mich kümmern." Das wirkt sich natürlich auf die Kinder und ihre Entwicklung aus, auf den ersten Blick wirken diese Kinder oft

00:20:05:  unheimlich selbstständig,

00:20:08: frühreif und vernünftig. Da denkt man manchmal: "Wow, die kriegen das ja unheimlich gut hin." Und es wäre aber ein großer Fehler zu denken:"Ja, dann muss man sich keine großen Sorgen machen, das läuft alles ganz gut soweit." In Wirklichkeit

00:20:22: fühlen auch diese Kinder sich total überfordert und viele Kinder sind auch sehr bedürftig und sie vermissen noch vieles von dem was Kinder normalerweise brauchen und bekommen.

00:20:32: Und insofern kann man sich vorstellen,

00:20:35: wenn Kinder unter diesen Bedingungen aufwachsen, dass sich das dann natürlich auch langfristig auf ihre Entwicklung auswirkt, wenn man immer die Erfahrung macht: "Ich muss mich

00:20:44: um andere kümmern. Meine eigenen Bedürfnisse sind nicht so wichtig", dann wird sich das irgendwann auch ein Stück weit in der eigenen Persönlichkeit, in der eigenen Identität so verankern. L: Vielen Dank Johannes. Mir läuft da gleich eine Gänsehaut über den Rücken, wenn du sagst: "Ja, die wirken immer besonders verantwortungsbewusst", denn ja, ich glaube, dass

00:21:01: bekommen ganz viele in ihrer Kindheit zu hören und

00:21:04: bei mir war der große Schwung dann erst als ich schon 25 oder so war, dass mal die Mutter von einem Nachhilfekind von mir dann gesagt hat:"Sag mal, und hast du denn eigentlich jemanden, der

00:21:17: mal hört wie es dir so geht?" Und das war gefühlt das erste Mal in meinem Leben, dass mich das jemand gefrat hat, weil ich nach außen immer den Eindruck gemacht habe, das läuft alles gut und alles funktioniert. Und dann sagen die Leute eher

00:21:31: :"Ja, das ist ja toll wie selbständig oder erwachsen du schon bist."

00:21:36: Also diese Herangehensweise stärkt zwar mir ersten Moment, aber im zweiten Moment übersieht sie eben, dass dann da noch Bedürfnisse sind, denen

00:21:43: nicht entsprochen werden kann. Und das ist schade. Und dadurch denke ich auch, ist da

00:21:49: viel aufzuholen, ansonsten finde ich natürlich interessant, diesen Begriff erwachsene Kinder, den kann man natürlich für uns alle anwenden. ich glaube, wenn die Eltern das erste Mal

00:21:58: ein bisschen hilfebedürftiger werden, auch im Alter oder wenn die dann sterben, umso schlimmer, dann merken wir alle, dass wir eigentlich noch

00:22:05: Kinder sind in der Seele. Und ich glaube, diese Kinder immer wieder mal anzugucken

00:22:10: das ist ein wichtiges Thema für uns alle, auch egal, wie wir aufgewachsen sind.

00:22:15: JK: So, damit meinst du ja auch, glaube ich, sich selbst so ein bisschen anschauen. Ja, also wie geht's eigentlich dem Kind in mir? Du hast ja auch gerade, Johannes, Langzeitfolgen angesprochen.

00:22:24: Vielleicht könnt ihr auch beide, dass noch mal zusammen tragen, was das für Langzeitfolgen sind. Vielleicht hören ja auch einige zu, die sich selber dann im Nachgang noch mal ein stückweit beobachten und vielleicht da auch einen Zusammenhang feststellen. Was sind das für, ich sa mal typische,

00:22:39: Dinge, die den Kinder mit dem langen Schatten wiederfahren im Erwachsenenalter?

00:22:44: JJ: Da würde ich gerne noch mal Bezug nehmen auf die Studie, die ich vorhin erwähnt habe, auf die bundesweite Befragung mit mehreren hundert Studienteilnehmern, die wir durchgeführt haben. Und da zeigte sich eine ganze Reihe von ich, sag mal von Problemen und Einschränkungen,

00:23:00: die die Befragten berichtet haben und da war z.B. das Thema Selbstwertprobleme ein ganz großes Thema. Ja, dass viele

00:23:07: der Befragten, die in der Kindheit auch die Erfahrung gemacht haben: "Ich bin nicht wichtig, meine Bedürfnisse sind nicht so wichtig", dass

00:23:13: sozusagen irgendwann so in der eigenen Persönlichkeit verankert haben, dass sie selbst irgendwie so Zweifel haben, ob ihre Bedürfnisse wichtig sind.

00:23:22: Oder manchmal vielleicht ihre eigene Bedürfnisse gar nicht richtig kennen, also Selbstwertprobleme, auch depressive Probleme immer wieder,

00:23:29: niedergeschlagene Episoden. Wir haben z.B. in unserer Stichprobe festgestellt, dass über die Hälfte der Befragten

00:23:37: schon einmal eine Psychotherapie oder mindestens eine Psychotherapie gemacht hatte oder zum Befragungszeitpunkt auch machte.

00:23:45: Ein ganz großer Bereich waren auch zwischenmenschliche Probleme, die berichtet wurden. Also ganz häufig:

00:23:51: Es fällt mir unheimlich schwer anderen Menschen zu vertrauen, mich auf andere Menschen einzulassen und mich dann ein Stück weit auch fallen zu lassen. Also immer ein Stück weit auch so ein bisschen Misstrauen:

00:24:02: Kann ich wirklich vertrauen? Kann ich mich wirklich völlig öffnen?

00:24:06: Kann ich Kontrolle abgeben? Weil viele, auch in der Kindheit, die Erfahrung gemacht haben, sie müssten die ganze Zeit eigentlich versuchen alles unter Kontrolle zu haben. Ja und es ist ganz fatal, wenn sie das mal nicht tun.

00:24:18: Das ist etwas, was sehr häufig berichtet wurde. Was einfach auch mit bestimmten Beziehungs- und Bindungserfahrungen in der Kindheit zusammenhängt. Also Probleme Vertrauen zu schenken, ja auch Beziehungsprobleme,

00:24:30:  Partnerschaftsprobleme, die damit einfach auch einhergehen, die man sich vorstellen kann und nicht zuletzt auch etwas, was viele gesat haben: "Ja, viele sagen zu mir, dass ich immer so ernst bin, dass ich nie so völli ausgelassen bin.

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00:24:44: Manche sagen zu mir Spaßbremse oder so, weil ich auch irgendwie in meiner Kindheit auch nie so richtig unbeschwert sein durfte, da habe ich mir das richtiggehend abtrainiert." Das hat mal eine Studienteilnehmerin zu mir gesagt.

00:24:57: Das wird dann oft auch ein Stück weit auch vermisst. "Ja, so Unbeschwertheit, Lust und Freude, diese kindliche Spontanität, das fällt mir auch als Erwachsener mir total schwer."

00:25:09: M: Ich habe gesehen, Lisanne hat geschmunzelt. Willst du da was ergänzen?

00:25:13: L: Genau, ich wollte auch da gerade einsteigen, denn das ist ein wunderschönes Thema. Wir machen ja eben einmal im Jahr dieses Workshopwochenende, wo auch die Mitglieder Workshops selbst anbieten dürfen und sollen.

00:25:25: Und da wurde bei dem letzten Präsens-Workshop-Wochenende ein Seminar zum Thema Hedonismus angeboten, denn das war tatsächlich

00:25:33: , zumindest manchen Mitgliedern, ein Anliegen zu sagen: "Einfach mal Zeit haben und eben nicht Workshop, keine Arbeit haben müssen", denn das ist auch ein typisches Phänomen eben irgendwie zu sagen:"

00:25:45: Wir müssen jetzt auf so einem Wochenende was arbeiten oder wir müssen da jetzt Workshops machen, wo wir was tun." anstatt zu sagen: "Wir sitzen

00:25:53: mal einfach ums Lagerfeuer, trinken Bier oder O-saft und genießen einfach die Zeit zusammen."

00:26:00: Und dieses Mitglied wollte das noch mal hervorheben zu sagen: "Wir müssen auch lernen einfach mal loszulassen und es einfach zu genießen."

00:26:09: Und das ist ja schön, stimmt auch,ich glaube das macht viel aus. Zu den Themen allgemein: Was gibt's da für

00:26:18: Lanzeitbeobachtungen? Ich habe ja nur mit einigen Menschen da Kontakt gehabt und merke immer wieder, dass es sehr sehr verschieden sein kann. Ich glaube heute

00:26:27: sind es auch Schlafprobleme, also vieles manifestiert sich dann so ein bisschen auch

00:26:32: in körperlichen Erregungszustände, dass man so eine ständige Erregung hat

00:26:38: und nie das so richtig abbauen kann. Auch wenn man vielleicht Yoga macht, wenn man ganz viel schläft und wenn man einfach nichts macht und trotzdem ist man immer in so einem

00:26:46: Erregungszustand, weil man das irgendwie gewöhnt ist, immer wachsam zu sein. Und diese zwischenmenschlichen Beziehungen - ich will gleich vorwegnehmen, ich glaube, ganz viele von diesen erwachsene Kindern sind

00:26:58: sehr sozialverträglich eigentlich, aber sie haben mit sich selbst viele Schwierigkeiten. Also weil die können sehr viel Rücksicht nehmen auf die Bedürfnisse anderer

00:27:07: und das sind sie ja gewöhnt immer zugucken, wie geht's dem anderen? Und deshalb kommen sie glaube ich mit vielen Menschen gut aus, aber für sich selbst haben sie immer Schwierigkeiten, die Johannes meinte,

00:27:19: Vertrauen, Bindung herzustellen. Und für mich zumindest ist es eine dauerhafte

00:27:26: Frage immer wieder Lebenssinn zu erzeugen, also für mich ist es eine ständige Aufgabe für mich einen Sinn zu finden weiterzumachen. Also

00:27:35: das mag manchmal Perioden geben, da funktioniert das wunderbar, da ist es kein Problem, aber es gibt auch immer wieder Tage, wo ich da sitze und eigentlich nicht weiß, wofür ich weitermachen soll. Also

00:27:46:  man kann damit weiterleben, es klingt jetzt echt schlimmer als das ist, aber es ist was, was dauerhaft für mich auch so ist und ich glaube, dass es anderen auch so geht.

00:27:55: Jens sieht aus, als würde er etwas sagen wollen? JK: Ja, ich habe noch eine Frage, die sich mir so aufdrängt: Mich hat jetzt wirklich interessiert,

00:28:02: die eigene Seele kennenzulernen ist ja auch ein Prozess, der nicht von jetzt auf gleich passiert. Also für jeden Menschen, egal mit welchen Voraussetzungen er sich umschlägt, aber

00:28:13: gibt es auch so Momente, wo man so Aha-Erlebnisse hat? Wo man sagt: "Ah okay, meine

00:28:19: depressive Stimmung oder mein vielleicht geringes Selbstwertgefühl hat mit meinen Eltern zu tun." oder bezieht man das schon immer direkt aufeinander? Gibt es immer schon so ein Gefühl wo man sagt: "Okay, ja

00:28:31: irgendwas hat mir gefehlt in der Kindheit und das ist bestimmt etwas mit meinen Eltern"? Wisst ihr, was ich meine mit dieser Frage?

00:28:37: L: Also ich glaube, für mich persönlich waren das  zumindest zwei Schritte, weil ich das früher bestimmt nicht in Verbindung gebracht habe. Wie gesagt, bei mir kam das große Aha-Erlebnis erst mit 25 oder so. Als das  dann tatsächlich irgendwie auch mal von außen gespiegelt wurde, vielleicht ist es ja gut mal was anzugucken und so, also sich um sich selbst zu kümmern.

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00:28:57: JK: War das erleichternd für dich oder war das noch mal eine größere Bürde, die sich da auf getan hat?

00:29:06: L: Im ersten Moment war es gar nicht so erleichternd, weil ich eigentlich das erstmal weg geschoben habe und gesagt habe:"Nee, mir geht's doch gut, also ich schaffe doch alles", weil im ersten Moment klingt es ja auch nach Schwäche. Also: Wie ich brauche Hilfe? Ich brauche keine Hilfe! Und es war für mich auch immer ein Tabuthema, selbst in eine Therapie zu gehen oder so. Also deshalb war Selbsthilfe mein einziger Weg, den ich mir erlaubt habe um dann auch sofort irgendwie nach einem halben Jahr dort die Gruppe zu übernehmen quasi, also die Leitung auch zu übernehmen. Das war irgendwie für mich so ein Zeichen von Stärke, ich bin nicht nur hilflos, sondern ich will was machen, ich will mich um mein eigenes Schicksal kümmern. Also im ersten Moment war es eher schwierig. Ich bin auch die ersten Male in diese Gruppe nur gegangen, weil ich gesagt habe:" Ich will keine Therapie machen, das ist also der einzige Weg. Ich gehe da jetzt immer wieder hin und hoffe, dass es besser wird. Also ich sitze das jetzt aus irgendwie." So in dem Sinne und es hat ja auch geholfen, also es ist gut, dass ich diese Entscheidung getroffen habe. Was ich sagen wollte: Dieser Zwei-Schritt ist zum ersten Mal natürlich zu sagen:"Boah, das ist ja nicht nur meine Verantwortung, dass es mir vielleicht manchmal nicht so gut geht oder dass ich mit manchen Sachen so Schwierigkeiten habe, sondern da gibt es Gründe dafür." Aber ohne Schuldzuweisung, sondern ich kann einfach sagen: "Okay, ich habe meine Gründe warum ich so bin" und dann im zweiten Schritt kann ich daran arbeiten, irgendwie das auch für mich einzuordnen und weiter zu machen. Also es soll gar nicht so klingen, dass man dann sagt: "Gut, ich kann das jetzt endlich alles auf meine Eltern abschieben", sondern einfach sich selbst zu entlasten und zu sagen: "Ich bin nicht alleine daran schuld oder so und ich habe Möglichkeiten auch anders zu werden. Und aus diesen Grundlagen kann ich auch Potenziale machen und anders mich entwickeln." Und das ist eine große Erkenntnis. Das ist etwas, was viele Betroffene, also viele erwachsene Kinder von psychisch kranken Eltern, berichten. Ja, das ist so eine Art Aha-Erlebnis für sie war. Also festgestellt haben: Ich habe mich erstmals getraut über meine Kindheitserfahrungen zu sprechen und mich wirklich zu öffnen,wie befreiend sich das anfühlt, wie gut sich das anfühlt. Und ich habe zum Teil mit mit erwachsenen Kindern gesprochen, die mit Mitte 30 oder sogar erst mit Mitte 40 sich das getraut haben, die gesagt haben: Wissen Sie, was ich ihnen erzählt habe, das habe ich noch nie jemanden vorher erzählt." Das muss man sich mal vorstellen. Und es gab viele, die sich bei mir sogar bedankt haben. Also das war etwas, was mich wirklich verblüfft hat und mich sehr ins Nachdenken gebracht hat. Wo ich auch gemerkt habe, dass es eine heilsame Wirkung hat, drüber zu sprechen. Und ich würde mir wünschen, dass so früh wie möglich eigentlich, die Kinder, die in solchen Familien aufwachsen, die Möglichkeit haben darüber zu sprechen. Und jetzt kommen wir mal von den erwachsenen Kindern über die wir gesprochen haben zurück zu den Kindern, die wirklich noch klein sind, die minderjährig sind. Also Kinder und Jugendliche Ich glaube, das ist so ein ganz ganz wichtiger Ansatzpunkt in der Unterstützung betroffener Familien, dieses Thema besprechbar zu machen. In der Familie zu lernen darüber zu sprechen, normal darüber zu sprechen, statt es zu verheimlichen und zu tabuisieren. Das ist ein Riesenschritt, wenn das gelingt und das ist oft auch für die Eltern erleichternd, die sich oft auch unsicher sind, wie kann ich darüber sprechen oder vielleicht kann ich meinem Kind das gar nicht zumuten oder vielleicht wendet sich mit Kind dann von mir ab. Den Eltern diese Ängste zu nehmen, das ist, also wenn wir darüber nachdenken was können wir eigentlich für die Kinder tun oder was können wir für die Familien tun, ein ganz wichtiger Punkt meiner Meinung nach.

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00:32:31: M: Mich würde hier jetzt tatsächlich interessieren, auch hinsichtlich der Empfehlung der Arbeitsgruppe Kinder psychisch erkrankter Eltern aus dem Februar 2020, hier wurde noch mal hervorgehoben, dass eben Leistungen individuell auf die Bedarfe zugeschnitten sein sollen, flächendeckend ausgebaut werden sollen und sowohl für die betroffenen Kinder als auch für die Eltern zugänglich gemachten werden sollen. Also, dass es ein facettenreiches Unterstützungsangebot gibt. Wie sieht es denn derzeit mit Unterstützungsmöglichkeiten aus? Weil ich mir vorstellen kann, es gibt sicher Fälle von Familien, die regelmäßig besucht werden, aber es gibt auch Fälle, wo für das Kind aus der Familie heraus dann Unterstützung gesucht werden muss. Könnt ihr beide etwas dazu sagen?

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00:33:14:  JJ: Ja, erstmal vielen Dank, dass du die Arbeit dieser Expertenkommissionen Kinder psychisch erkrankter Eltern hier ins Spiel bringst. Ja, das ist ja eine Arbeitsgruppe, die vom Deutschen Bundestag eingesetzt wurde und die Ende 2019 ihren Abschlussbericht mit einigen Empfehlungen für Politik und Praxis vorgelegt hat, die ich sehr wichtig finde. Und wie du gesagt hast, ist eine dieser Empfehlungen ein flächendeckendes Unterstützungssystem aufzubauen, was wir in Deutschland derzeit noch gar nicht haben. Es gibt zwar inzwischen erfreulicherweise eine ganze Menge von Hilfsangeboten für Kinder psychisch kranker Eltern und ihrer Familien, aber das ist lange noch nicht in allen Städten und Regionen so. Und ein weiterer Punkt ist natürlich, dass viele dieser Projekte eine unsichere finanzielle Basis haben. Das heißt: Viele arbeiten für einige Jahre als Modellprojekte, wenn die finanzielle Förderung ausläuft, dann können sie ihre Arbeit nicht fortsetzen. Das ist also auch ein Punkt, der in dem Abschlussbericht dieser Arbeitsgruppe erwähnt wurde, dass diese Unterstützungsangebote auf eine solide finanzielle Basis gestellt werden müssen. Es ist es natürlich so, dass nicht jede Familie das gleiche Unterstützungsangebot braucht, das ist völlig klar. Und das reicht einfach auch von aufsuchenden Hilfen für psychisch erkrankte Eltern mit ganz kleinen Kindern und Säuglingen über Erziehungsberatung von Familien mit älteren Kindern, über Angebote für die Kinder und Jugendlichen selbst. Und da kann man sich auch vorstellen, es macht natürlich einen Unterschied, ob man neun oder zehn-jährige Kinder hat oder ob man 15- und 16-jährige hat, da muss man sich überlegen: Die brauchen unterschiedliche Dinge. Vielleicht bis dahin. Also Lysann, du hast genickt, vielleicht magst du da was ergänzen? uss es ein ganzes Spektrum an unterschiedlichen Hilfsangeboten geben.

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00:35:15: L: Ja, ich kann nur sagen: Ich habe daa selbst nicht so viele Erfahrungen gemacht, bei uns wurde da viel in der Familie aufefangen, aber ich habe inzwischen ja viel erfahren und auch gehört, dass es vor ein paar Jahren noch gar nicht üblich war im Krankenhaus bei der Aufnahme von einem psychisch Erkrankten zu fragen, ob da Kinder im Haushalt sind, die eventuell jetzt alleine sind und ob sich da jetzt jemand drum kümmert. Denn darum kann sich ein psychisch Erkrankter in der akuten Phase ja gar nicht kümmern, also so gerne er oder sie das möchte. Und das ist auch mein Eindruck ganz stark: Die meisten Eltern wollen sehr, sehr gerne gute Eltern sein und ich glaube das muss man wirklich immer berücksichtigen, dass das denen ein großes Anliegen ist, selbst wenn es ihnen sehr, sehr, sehr schlecht geht. Aber klar, in der schlimmsten Phase kann es sein, dass das Kind zu Hause eventuell doch alleine bleibt und die Eltern dann keinen Kopf dafür haben sich darum zu kümmern, ob jemand da ist für das Kind. Deshalb ist es schon ein großer Schritt, wenn das überhaupt erstmal für das Personal auf dem Schirm steht, dass danach gefragt wird: Ist da jemand zu Hause? Das ist das erste und, dass die Angebote für Kinder und Erwachsene stärker ineinandergreifen müssen. Also, wenn es um das Kind geht, muss immer der Erwachsene mitgedacht werden. Also, wenn es um ein Kind geht, was vielleicht selber psychische Leiden entwickelt hat, kann es ja auch mal sein, dass in der Familie auch was vorhanden ist, das muss immer mitgedacht werden. Und wenn das Elternteil erkrankt ist, muss natürlich auch die Psyche des Kindes immer mit gedacht werden. Das wäre der beste Fall, das heißt: So eine aufsuchende Hilfe, finde ich einen guten Ansatz. Und eben, wie du ja schon gesagt hast, dass die Projekte auf sinnvolle Füße gestellt werden, auf nachhaltige Füße, die in die Zukunft tragen können und nicht nur projektbezogen sind. Ja, das wünsche ich mir auch.

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00:36:52: JK: Was würdet ihr hier auch von den sozialen Berufen vielleicht erwarten? Ihr habt euch ja jetzt gerade auf das Krankenhauspersonal oder Klinikpersonal, habe ich das verstanden, bezogen. Wenn da jetzt  jemand mit Depressionen eingeliefert kommt, erstmal die Frage: Gibt's da überhaupt Kinder? Und inwieweit sind die mit betroffen? Also das ganze System Familie sozusagen zu betrachten. Was würdet ihr jetzt, weil wir ja auch viele junge Menschen haben, die vielleicht gerade in der Ausbildung sind in der sozialen Arbeit Heilpädagogik und so weiter, denen vielleicht mitzugeben hier an diesem Punkt? Vielleicht mal Lysann, du so aus der Praxis heraus gesprochen und Johannes, vielleicht bei dir ja mal so ein bisschen dieses System Bildungseinrichtung da in den Blick zu nehmen. Was können wir heute lernen vielleicht hier?

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00:37:36: JJ: Ja, ich glaube tatsächlich, dass wir, wenn wir an mögliche Hilfe und Unterstützungsangebote denken, müssen wir auf verschiedenen Systemebenen dass´ uns anschauen. Erstens auf einer strukturellen Ebene und das hat Lysanne gerade schon erwähnt, wär es total wichtig, dass die unterschiedlichen Hilfesysteme, ja mit psychisch erkrankten Eltern und ihren Familien in Berührung kommen, besser miteinander zusammenarbeiten. Das geschieht bislang noch nicht ausreichend, beispielsweise in der Erwachsenenpsychiatrie, wo halt viele psychisch erkrankte Menschen zum Beispiel in einer akuten psychotischen Episode behandelt werden, da muss es an der Selbstverständlichkeit sein, dass beim Aufnahmegespräch oder bei der Anamnese auch nach den Kindern gefragt wird und nach der häuslichen Situation. Wer kümmert sich jetzt eigentlich im Moment um die Kinder und so weiter. Da müssen auch die Ärzte und das Pflegepersonal sich verantwortlich fühlen, für das was zu Hause ist bei Patientinnen und Patienten. Und es sollte meiner Ansicht nach regelmäßige Austauschtreffen und eine regelmäßige Routine geben, sich dann z.B. auch mit den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe auszutauschen, das ist nämlich das zweite große Hilfesystem. Kinder- und Jugendhilfe, das Jugendamt namentlich, ja dass es da Austausch- und Arbeitstreffen idealerweise geben sollte. Wo man dann schaut, was ist das Beste für die Familie, was ist Beste für die Kinder. Also das ist jetzt auf einer strukturellen Ebene solche Veränderungen anzustreben und zu ermöglichen und auch finanziell zu ermöglichen, weil das sind ja Ressourcen, die da reinfließen. Und dann auf einer beruflichen oder professionellen Ebene denke ich tatsächlich: Alle, die später mal mit Familien arbeiten oder die mit psychisch erkrankten Menschen irgendwie Berührung kommen, sollten meiner Ansicht nach ein solides Basiswissen darüber haben, wie es Kindern in diesem Familien geht und was die brauchen. Das betrifft Sozialarbeiter- und Sozialarbeiterinnen. Das betrifft Psychologen und Psychologinnen, die später vielleicht in der Therapie tätig sind. Das betrifft auch Ärzte und Ärztinnen selbstverständlich, auch Hausärzte und Allgemeinmediziner, die oftmals die ersten Ansprechpartner sind, wenn etwas nicht so gut funktioniert. Ja, alle die mit Kleinkindern zu tun haben, auch Kinderärzte, die sollten hier, glaube ich, wirklich breit aufgestellt sein. Auch schon in ihren Studiengängen, ihren Ausbildungen und Fortbildungen sollten darüber noch viel, viel besseres Wissen erhalten. Und zuletzt möchte ich auch noch die Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen erwähnen, die ja -wir haben eine Schulpflicht in Deutschland - tagtäglich mit den Kindern zu tun haben und die, das ist meine Überzeugung, sich nicht nur zuständig fühlen sollten, für das was die Kinder lernen, sondern auch wie es den Kindern sonst so geht. Doch, da tragen sie glaube ich eine wichtige Verantwortung.

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00:40:15: L: Also mir sind die Hausärzte tatsächlich auch bis vor zwei Jahren gar nicht so bewusst gewesen, dass das eine große Rolle spielen kann. Wir haben das im Verein thematisiert indem wir ihm dieses Buch "Unsichtbare Narben" auch an die Hausärzte

00:40:29: verschenkt haben zum Teil und einfach als Anknüpfungspunkt genommen haben, um mit ihnen darüber zu sprechen, dass es eben einen Hintergrund geben kann, dass eben psychisch erkrankte

00:40:39: Menschen, die zum Teil ja auch erstmal bei den Hausärzten sind und die Kinder gehen dann auch zu diesen Hausärzten. Das heißt, die wissen ja oft was da im Hintergrund noch ist und dass die wichtige Sammelstellen für sowas sein können, um.

00:40:54: da irgendwie noch mal drauf einzugehen und sowas zu merken, wenn da vielleicht Probleme auftreten.

00:40:59: Lehrerinnen und Lehrer auch auf jeden Fall. Ich habe in Berlin ein Schulprojekt begleitet bzw. begleite das immer noch, aber nicht mehr so intensiv, wo wir in Schulklassen gegangen sind als Trialog, in einer trialogischen Form. Das heißt: Immer mit einem Betroffenen, einem Expert_in, die selbst

00:41:16: irgendwelche psychischen Leiden, Krisen durchlebt hat; dann eine_n Angehörige_n

00:41:21: in verschiedener Form, also Eltern, Partner, Kindern und ein Fachpersonal und mit denen über psychische Krisen gesprochen haben. Von relativ klein, dritte Klasse, bis

00:41:33: hoch in die Fachklassen.

00:41:35: Und da habe ich gerne auch das Bild genommen - also jedes sechste Kind kann betroffen sein von einem psychisch kranken Elternteil - dann habe ich abgezählt und gesagt:

00:41:43: "Hier, also ihr seid sechs. Also einer von euch könnte es sein, da könnt ihr euch ja mal austauschen." Genau, das ist ein wichtiger Punkt, glaube ich, weil da läuft vieles auf.

00:41:52: Allgemein habe ich zwei Wünsche an künftiges Personal oder an die, die damit beschäftigt sind. Auf der einen Seite: Eben Familien als System natürlich zu betrachten und

00:42:03: das wird oft als Ressource gesehen, also ich meine, wenn dann da eine erkrankte  Person ist, dann wird gern gesagt:" Naja und die Familie muss das auch auffangen und so weiter", aber vor allem müssen die Familien auch gestärkt werden darin sowas auffangen zu können. Das darf nicht auf die Familie.

00:42:17: als Bürde aufgeladen werden, sondern es muss gemeinsam eine Lösung gefunden werden

00:42:23: und daran gearbeitet werden. Nicht nur zu sagen:"Na ja und wenn dann irgendwas ist, dann

00:42:27: macht ihr das so und so. Oder dann dann fängt das der Partner oder die Kinder auf", sondern auch zu sagen: "Die sind natürlich auch belastet und die müssen auch gestärkt werden." Und das Zweite, was ich mir wünsche, allgemein, großgesellschaftlich, ist, dass wir viel mehr

00:42:42: die Ressourcen in dem anderen sehen, also die Potenziale und sagen

00:42:46: :"Jeder Mensch möchte gerne das Beste aus sich machen und das beste mit anderen machen und in gutem Kontakt stehen miteinander." Und ich glaube, wenn wir da immer viel stärker auch

00:42:57: das Positive immer wieder hervorheben, dann stärkt das auch den anderen darin. Denn gerade, wenn man mit einem psychisch erkrankten Elternteil aufwächst, merkt man, glaube ich,

00:43:07:

00:43:08: die können nicht immer so wie sie wollen, aber sie wollen trotzdem gerne viel schaffen und viel machen. Und das lernt man wertzuschätzen, also das habe ich gemerkt, dass ich sehr viel wertschätzen weil, man ganz kleine Sachen schon

00:43:22: wertschätzen möchte und muss auch, weil es halt nicht so viele große Leistungen gibt im Alltag.

00:43:27: Ich wünsche mir, dass das alle mehr sehen, gerade Menschen, die mit psychisch erkranken zusammenarbeiten, da auch zu sagen: "Mensch, toll,

00:43:33: dass das und das jetzt geklappt hat, auch wenn es nur eine ganz kleine Kleinigkeit ist. Einen Stuhl freizuhalten oder das Geschirr abzuwaschen oder was auch immer, also Kleinigkeiten. Da sehr stark den Fokus auf

00:43:43: individuelle Entwicklung zu legen.

00:43:45: JJ: Ja, das finde ich ganz schön, dass du das sagst, Lysann. Weil das ist ja nichts anderes als das, was wir in der sozialen Arbeit auch als Empowerment bezeichnen, das ist so eine grundlegende Haltung, die auf die Ressourcen

00:43:55: der Menschen schaut anstatt auf ihre Defizite. Und es ist unheimlich wichtig, wenn wir uns mit diesem Thema Kinder psychisch erkrankter Eltern beschäftigen, einfach auch an die Ressourcen zu denken,

00:44:05: die entweder da sind und die man stärken muss oder die man vielleicht auch aufbauen kann. Das ist also,

00:44:12: meines Erachtens, ein ganz zentraler Gedanke. Wenn wir etwas

00:44:16:  anbieten möchten für die betroffenen Familien, dass wir einerseits die kindlichen Ressourcen stärken, so früh wie möglich und auch schon schauen wie wir das stärken können. Auf der anderen Seite, wie du es gesagt hast auch die Ressourcen der Eltern,

00:44:27: weil ohne die Eltern geht es ja nicht. Die Eltern sind unheimlich wichtig, die sind im Alltag ja dann da

00:44:32: und im Grunde ist das der Königsweg zu einer Veränderung in den Familien, dass auch die Eltern lernen vielleicht

00:44:39: anders und besser mit ihrer psychischen Erkrankung umzugehen. Anders darüber zu reden, ihre Kinder anders mit einzubeziehen und vielleicht auch lernen, wie sie in Krisensituationen irgendwie eine sinnvolle Lösung finden gemeinsam mit den anderen Familienmitgliedern.

00:44:54: JK: Ja, ich find's supe, dass ihr die

00:44:55: Ressourcen von euch aus auch noch mal hier angesprochen habt, weil wir das auch in der Recherche sehr wichtig empfunden haben, dass wir das hier noch mal zur Sprache bringen. Die ressourcenorientierte

00:45:04: Haltung, die, du hast es ja gerade gesagt, den Sozialarbeiter_innen und allen, die in diesen Berufsgruppen damit beschäftigt sind, im besten Fall zugrunde liegt.

00:45:12: M: Ich denke, wir haben jetzt

00:45:14: sehr viele unterschiedliche Facetten besprochen. Ich denke, wir könnten jetzt auch noch länger sprechen und wahrscheinlich einen kompletten Themenblock mit euch beiden machen. Wir haben auch noch mal gesehen, wie wichtig die.

00:45:28: Hilfs- und Unterstützungsangebote sind, dass man Ressourcen und Potenziale auch hier

00:45:33: einerseits sehen, aber auch stärken soll, wenn diese dann noch vergraben sind. Und was ich jetzt für mich auch raus nehme ist, dieses "einfach noch mal hinschauen" und eben nicht all das was als Normalität erscheint, dass er halt mit dem erwachsenen

00:45:46: Blick des Kindes. Da kam mir die berüchtige Gänsehaut. Da denke ich,

00:45:51: kann jeder oder jede, die hier mithört auch was für sich mitnehmen. Jens, ich sehe du siehst auch noch ganz nachdenklich aus, du siehst das wahrscheinlich genauso wie ich.

00:46:00: JK: Ja, absolut. Also mich hat das sehr inspiriert hier das Gespräch mit euch beiden, da bedanke ich mich schonmal sehr und fand es auch wirklich sehr spannend eure beiden Perspektiven darauf zu hören.

00:46:10: Und ja, ich hoffe auch, dass der ein oder die andere vielleicht da was mitnehmen kann und auch vielleicht sogar für seine_ ihre Arbeit noch mal einen bisschen geschärfteren Blick

00:46:20: bekommen hat. Wenn ihr, wie gesagt, Interesse habt, euch da weiter rein zu lesen oder aber Kontakt zu

00:46:24: Lysann oder Johannes auch aufzunehmen, könnt ihr das gerne auch über uns machen. Alle Beschreibungen, wie gesagt, findet ihr

00:46:30: in der Podcastbeschreibung und auch zu den Büchern, die wir hier angeschnitten, vorgestellt haben.

00:46:36: M: Und auch die Studie, die am Institut für Gesundheitsforschung soziale Psychiatrie der katholischen Hochschule NRW in Aachen durchgeführt wurde.

00:46:43: Ich habe tatsächlich eine kleine Überraschung für euch, wenn ihr unseren Podcast schon gehört habt,

00:46:50: dann werdet ihr wissen, wir haben am Ende eine Abschlussfrage, die Frage Lieblingsmensch.

00:46:56: Uns würde nämlich interessieren, ob es einen Menschen - das kann eine fiktive Person sein,

00:47:02: eine Forschungsperson sein, eine artistische Person sein - die euch im Leben inspiriert hat oder wo ihr denkt, dass ist jemand,

00:47:12: der_die nicht so bekannt ist und es wäre schön, wenn die Zuhörer_innen darüber mehr wissen würde. Gebe es da

00:47:18: eine Person, die ihr uns ans Herz legen könnt?

00:47:23: JJ: Also, ich tue mir ein bisschen schwer, aber vielleicht jemand, der mich seit Jahren sehr beeindruckt und ich bin ein großer Fan von Margaret Atwood, die kanadische Schriftstellerin.

00:47:33:  Bei der es schon längst überfällig ist, dass sie endlich mal den Nobelpreis erhält. Margaret Atwoods, die

00:47:38: ja vielen bekannt ist von der Report der Magd, das ist ja jetzt auch verfilmt worden, aber die hat so viel mehr auch geschrieben. Und was mich bei Margaret Atwoods so fasziniert, dass ist die Vielfalt

00:47:49: ihres schriftstellerischen Schaffens. Ja, die hatte ein unglaublich riesiges Spektrum an verschiedenen

00:47:55: Arten von Stilen und wie sie sich ihren Gegenständen nähert.

00:48:00: Das hat mich immer fasziniert und das ist für mich insofern Inspirationsquelle, als dass ich auch irgendwie als Hochschullehrer und Wissenschaftler immer denke,

00:48:10: : "Es ist wichtig einen möglichst weiten Blick zu haben. Also sich nicht, wie es also

00:48:16: doch auch viele Kolleginnen und Kollegen dann tun, sich zu spezialisieren auf ein Thema, zum Beispiel das Thema Kinder psychisch erkrankter Eltern - so faszinierend und interessanr und verdienstvoll das auch ist - ist es mein Anspruch immer gewesen

00:48:29: in verschiedenen.

00:48:30: Feldern der Forschung und auch des Fachs Psychologie unterwegs zu sein und neugierig zu bleiben und immer wieder etwas Neues zu probieren. Insofern ist Margaret Atwoods, auch wenn es jetzt

00:48:41: im ersten Moment vielleicht ein bisschen weit hergeholt erscheint, für mich immer so eine Inspiration gewesen, weil auch sie diesen Anspruch hatte.

00:48:48: M: Ich muss jetzt hier direkt sagen: Mein literaturwissenschaftliches Herz, das wissen die Hörer_innen, schlägt da höher. Ich kann da absolut

00:48:57: die Meinung vertreten, dass der Nobelpreis unbedingt mal

00:49:01: an sie verliehen werden muss. Ich kenne da noch einen anderen Kandidaten, mein Lieblingsautor, der aus Japan kommt , da ist das auch schon längst überfällig. Das können wir ein anders Mal besprechen.

00:49:11: Lysann, hättest du jemanden, den du hier spontan erwähnen würdest?

00:49:16: L: Ja, ich hab auch 1000 Ideen oder 1000 Menschen, die gerade in der Literatur - ich lese sehr viel und sehr gerne - die unendliche Geschichte hat mich wahnsinnig geprägt als Jugendliche, als Kind tatsächlich. Aber

00:49:29: was mir ganz spontan zu Lieblingsmensch eingefallen ist,

00:49:34: Ich habe eine ganze Zeit, es hat tatsächlich auch ein bisschen mit meiner Historie als erwachsenes Kind zu tun,

00:49:39: in dieser Zeit, als es mir so ein bisschen schlechter ging auch, habe ich einen Youtuber verfolgt, habe mir sehr, sehr viele Let's Plays angeguckt und es hat mir aber tatsächlich

00:49:49: so einen zweiten Weg eröffnet in die Richtung Menschen näher zu kommen, die sich sehr - ich bin eh auch ein sehr verspielter Mensch, ich spiele super gerne ganz viele Spiele, aber

00:49:59: Computer war bis dahin überhaupt nicht mein Thema und ist es eigentlich immer noch nicht, also ich spiele immer noch nicht gerne Computer

00:50:04: spiele. Aber diese Let's Plays zu gucken und diesen Youtuber zu sehen, wie der so wohlwollend mit sich selbst und seinen eigenen Fehlern im Spiel umgegangen ist, das hat mir wahnsinnig viel gegeben und er hat auch immer als Mensch

00:50:15: sehr viel für seine Community gemacht. Und das hat mich bestimmt zwei, drei, vier Jahre so begleitet immer wieder mal und das hat mir eben auch noch zusätzlich den Weg eröffnet,

00:50:26: gerade vielleicht die Männer besser zu verstehen, die sehr viel Zeit mit Computerspielen verbringen und da auch ein bisschen wertschätzend zu sein. Also, dass das auch schon Lebensphilosophie sein kann, die

00:50:37:  im Leben eine große Rolle spielen kann und das auch in Ordnung ist.

00:50:43: Ich weiß nicht, ich will  ihn jetzt nicht nennen, also ich kann ihn nennen, aber ich glaube, ja soll ich ihn nennen? M: Also, ich will den Namen jetzt wissen. L: Ja, der Opa aller Youtuber Gronkh, kennen vielleicht einige. Die Männer nicken.

00:50:57: JJ: Ja, alle, die jugendliche Kinder haben kennen Gronkh natürlich. M: Da muss ich, glaube ich, was nachholen. L: Kann man unbedingt mal kennen. Also man muss den ja nicht so stark verfolgen, er hat sich auch viel verändert. Aber

00:51:10: ich glaube für die Jugendgeneration ist es Wahnsinn, dass er so übergreifend, also wirklich von ganz relativ jungen Kindern, die schon

00:51:18: mit zehn oder neun angefangen haben ihn zu gucken und dann noch mit 30 dabei sind. Also ee ist wirklich ein Generationenphänomen.

00:51:27: M: Ja, dann vielen lieben Dank. Dann habe ich auf jeden Fall was, was ich leich mal recherchieren werde, wenn ich aus dieser Sitzung raus gehe. Ich würde

00:51:35: an dieser Stelle tatsächlich sagen: Das war's jetzt von der s_innzeit.

00:51:40: Ich möchte mich ganz herzlich bei euch beiden bedanken für diesen facettenreichen Blick und auch noch mal eure Appelle und Wünsche bekräftigen, die ihr am Ende der Folge auch genannt habt.

00:51:53: Also noch einmal vielen herzlichen Dank. Únd wir, liebe Zuhörer_innen, sehen uns oder bzw. hören uns in drei Wochen

00:52:01: zum Thema "Kinder trauern anders". Und ich möchte hier auch eine Lektüre zur Hand geben,

00:52:08: das ist eine Trauerbegleitung für junge Menschen, eine qualitative Evaluationsstudie, die eben von Professor Doktor Johannes Jungbauer - Johannes, der hier bei uns sitzt - durchgeführt wurde

00:52:19: gemeinsam mit seinem Kollegen Professor Dr. Rainer Krockhauer. Vielleicht kannst du hier ganz kurz was dazu sagen?

00:52:25: JJ: Ja, vielleicht ganz kurz, weil in den Vorgesprächen ich ja zufällig davon erfahren habe,

00:52:32: dass ihr euch beim nächsten Mal mit diesem Thema beschäftigt. Da habe ich mir gedacht:"Mensch, da haben wir doch erst kürzlich diese interessante Studie durchgeführt über

00:52:39: ein Kindertrauer Projek hier in Aachen". "Diesseits" heißt das und da werden vor allem Kinder und Jugendliche betreut, die ihre Eltern oder ein anderes wichtiges Familienmitglied verloren haben und die dort die Möglichkeit haben in dieser Kindertrauergruppe ein Stück weit auch

00:52:54: ihre Trauer und ihre Erfahrungen aufzuarbeiten.

00:52:56: JK: Super, vielen Dank Johannes. Vielen Dank auch noch mal von mir an euch beide und ja, macht's gut, habt einen schönen Tag und an unsere Zuhörer_innen da draußen,

00:53:07: auch an euch: Macht's gut. Genießt den Tag und bis dahin-

00:53:11: M: Noch mal ein ganz kurzer Hinweis: Abonniert bitte unseren Podcast. Weiterhin: Lasst uns ein Like da oder auch Kommentar. ihr könnt uns sehr gerne eine E-Mail schreiben unter sinnzeit@katho-nrw.de

00:53:21: Wir freuen uns auf eure Anregungen, Anmerkungen und wenn ihr Fragen zu unseren Gästen habt,

00:53:30: die leiten wir natürlich dann auch sehr gerne weiter. Das wollte ich noch sagen und zum Abschluss, das haben wir nicht verändert: Nutzt eure Zeit s_innvoll! Tschüs!

00:53:38: JK: Tschüss! JJ: Tschüss, hat mir viel Spaß gemacht. L: Tschüß, das war ein sehr schönes Gespräch.

00:53:43: Music.

Über diesen Podcast

Soziale Ungerechtigkeit, spannende Konzepte aus der Wissenschaft und innovative Lösungsansätze für soziale Herausforderungen – all das behandelt s_innzeit, der Wissenschaftspodcast von s_inn!

https://www.s-inn.net
sinnzeit@katho-nrw.de

von und mit Marina-Rafaela Buch, Jens Koller, Sinem Malgac, Stephan Post, Ariadne Sondermann, Lisa Koopmann

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