s_innzeit - der Wissenschaftspodcast zur Sozialen Arbeit

s_innzeit - der Wissenschaftspodcast zur Sozialen Arbeit

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00:00:00: Music.

00:00:13: Jens (J): Hallo an alle an den Endgeräten da draußen: Willkommen zu s_innzeit, dem Wissenschaftspodcast vom Transfernetzwerk soziale Innovation s_inn. Mein Name ist Jens Koller und ich sitze hier wie immer digital verbunden mit meiner Mitmoderatorin Marina. Hallo Marina!

00:00:19: Marina (M): Hallo Jens!

00:00:26: J: Unser heutiges Thema lautet: "Against all odds - Zu Barrierefreiheit braucht es mehr!" Liebe Marina, warum sprechen wir heute über dieses Thema? Warum macht diese Folge genau in diesen Zeiten s_inn?

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00:00:36: M: Ja, Jens: Wie wir das auch gehört haben in unseren vorherigen Folgen: die aktive Teilhabe am Leben unserer Gesellschaft ist nicht nur für uns wichtig, sondern ist auch ein wichtiger Bestandteil von Wohlbefinden und Zufriedenheit. Und was für manch jemanden als völlig normal erachtet wird, ist für andere eben nicht so einfach zu erreichen und einige sind immer wieder mit unterschiedlichen Barrieren im Alltag konfrontiert, sei es der offensichtlich fehlende oder kaputte Fahrstuhl für Menschen im Rollstuhl am Bahnhof oder aber subtiler Barrieren oder Strukturen, wie z.B. komplexe Sprache in Behörden. Und das sind eben nur wenige Beispiele von vielen, vielen anderen. Und bei diesem Thema ist als ein wichtiges Jahr, das Jahr  2009 zu nennen, da in diesem Jahr die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland ratifiziert wurde und dort verpflichtet sich Deutschland nach besten Möglichkeiten die Teilhabe an der Gesellschaft für Menschen mit Behinderung zu erhöhen. Und wir möchten heute darauf eben einen kritischen Blick werfen und uns fragen, wie weit Deutschland in dieser Frage fortgeschritten ist und wo es auch noch Entwicklungsbedarf gibt.

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00:01:42: J: Ja, vielen Dank Marina für die kurze Einleitung. Wir haben uns heute auch wieder einen Gast eingeladen, der Experte auf diesem Gebiet ist und zwar handelt es sich diesmal um Raul Krauthausen. Hallo Raul!

00:01:52: Raul (R): Hallo! J: Raul ist unter anderem Mitgründer des gemeinnützigen Vereins Sozialhelden e.V. von woher aus er schon viele verschiedene soziale Projekte initiiert hat und realisieren konnte, wie z.B. wheelmap.org, das ist eine Karte zum Finden rollstuhlgerechter Orte. Aber auch z.B. das Projekt leidmedien.de medien.de. Dieses ist eine Internetseite für Journalisten, die beabsichtigen Menschen mit Behinderung zu thematisieren. Darüber hinaus hat er auch verschiedene TV-Formate ins Leben gerufen, ist Betreiber eines Podcasts und ein gern gesehener Gesprächspartner auf diversen Veranstaltung. Unter anderem heute auch hier bei uns im Podcast. Lieber Raul, ich würde mit einer persönlichen Frage starten. Wir haben es ja in der Vorstellung gehört: Du bist, wie man so schön sagt, auf vielen Hochzeiten unterwegs. Ja, du bist sehr umtriebig was das Thema angeht. Wie ist es dazu gekommen, dass du dich so intensiv für die Belange von Menschen mit Behinderung einsetzt?

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00:02:46: R: Also einmal glaube ich, war das eine ganz eigennützige Geschichte. Ich bin ja selber jemand mit Behinderung und es hat mich einfach genervt und nervt mich bis heute, dass die ganze Zeit mein Handlungsspielraum von nicht behinderten Menschen definiert wird und selbst im vermeintlichen Inklusionsbereich dominieren vor allem nicht behinderte Menschen das Sagen und entscheiden was gemacht wird und was nicht, wo Geld reingesteckt wird und wo nicht, wo Aufmerksamkeit investiert wird und wo nicht. Sei es in der Lehre, in der Forschung, aber auch beim Wohnen, beim Arbeiten, in der Schule, überall da, wo Menschen mit Behinderung stattfinden sollen, entscheiden nicht behinderte Menschen, wie weit dieses Stattfinden sein darf. Und das hat mich schon immer genervt und ich habe mich immer gefragt: Warum wird es eigentlich alles so paternalistisch gesehen und wie können wir das ändern? Und habe dann angefangen vor 17 Jahren zusammen mit ein paar Freunden einen Verein zu gründen, die "Sozialhelden" und jetzt machen wir seit zwölf Jahren ziemlich genau das Thema Inklusion, Teilhabe, Barrierefreiheit zu unserem Hauptthema mit verschiedensten Projekten, du hast auch schon welche genannt. Die Wheelmap, die Onlinekarte für rollstuhlgerechte Orte auf der Bürgerinnen und Bürger ihre Nachbarschaft bewerten können, wie zugänglich sie ist.

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00:04:02: M: Raul, du bist auch im Innovationsmanagement "konkret Design Thinking" ausgebildet. Wie groß ist hier der Einfluss dieser Ausbildung, die du gemacht hast, auf deine Arbeit und deine Tätigkeiten? Also du hast ja jetzt hier einige auch genannt.

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00:04:18: R: Damit ist es sehr groß; weil im Design Thinking ich die Erlaubnis endlich bekommen habe Fehler zu machen. Und wir ja in Deutschland eher eine Kultur haben, wo wir unbedingt Fehler vermeiden müssen oder wollen. "Gute Noten, wir dürfen bloß nicht versagen, keine Fehler machen" ist das oberste Gebot und das führt dann dazu, dass bevor irgendein Vorhaben starten, wir erstmal riesige Pflichtenhefte, Lastenhefte definieren und am Anfang festlegen was am Ende bei rauskommen soll. Aber dann kann keine Innovationen entstehen, weil Innovation entsteht eigentlich, wenn man nah am Nutzer oder Nutzerin ist, wenn man versucht Fehler zu machen, so früh es geht so viele wie möglich, um anschließend aus Fehlern zu lernen. So wie ja auch Kinder natürlich nur durch Fehler machen lernen oder durchs Abgucken, aber nicht indem sie am Anfang sagen was am Ende bei rauskommen soll. Und diese Fehlerkultur wünsche ich mir sowohl auf Startseite, in Behörden, in Verwaltungen, aber auch natürlich, wenn es um die Inklusion von Menschen mit Behinderungen geht, weil auch da glauben wir, das Ganze können wir nur mit Fachkräften machen, mit hochspezialisierten Sonderschulpädagog_innen, was auch immer. Und es wird niemals genug Fachkräfte geben um Menschen mit Behinderungen adäquat überall wirklich teilhaben zu lassen, wenn wir es nicht alle gemeinsam versuchen. Und auch gemeinsam lernen und gemeinsam Fehler machen und gemeinsam wieder aufstehen und weitergehen

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00:05:47: . J: Da  wollen wir auch gleich noch mal drauf zu sprechen kommen, wer überhaupt dieses "gemeinsam" ist oder wer da vielleicht schon ein bisschen mehr mitmacht und wer vielleicht sich noch ein bisschen zurückhält, was diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe angeht. Wir wollen auch gleich noch auf so ein, zwei deiner Formate noch mal ein bisschen genauer eingehe. Vielleicht aber jetzt vorweg noch mal die Frage: Gibt es ein Format, eine Plattform, die auch aus euren Sozialhelden entstanden ist oder vielleicht die Sozialhelden selber, die dir besonders am Herzen liegt, wo du sagst: "Boah, das hat mir besonders viel Spaß gemacht. Da bin ich vielleicht auch, wie auch immer geartet, stolz drauf."? Und vielleicht noch da zusätzlich die Frage: Über welchen dieser Kanäle hast du das Gefühl besonders viel zu erreichen in deinen Anliegen? Also vielleicht durch eine große Reichweite oder dadurch; dass es groß rezipiert oder diskutiert wird?

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00:06:32: R: Also, ich habe jetzt kein Lieblingsprojekt, aber worauf ich schon stolz bin, ist die gemeinsamen Erkenntnismomente, die wir hatten in den letzten Jahren und auch vielleicht, wie wir es geschafft haben uns zu positionieren mit einem bestimmten Alleinstellungsmerkmal. Und da, glaube ich, könnte es noch viel mehr Organisationen, wie unsere geben. Unser Motto war die letzten Jahre "Disability Mainstreaming", also wir wollen die Mehrheitsgesellschaft für das Thema Behinderung öffnen, sei es freiwillige oder mit Druck, das ist dann auch erstmal offen gelassen, aber es darf nicht sein, dass wir immer noch Sonderlösungen für Menschen mit Behinderung bauen. Wir müssen eigentlich zu dem Punkt kommen, dass die Mainstreamprodukte barrierefrei sind und werden. Und auch Menschen mit Behinderung als Nutzer_innen ernst nehmen und da gibt es so gesehen in Deutschland kaum eine Organisation, die sich das auf die Fahnen schreibt. Und andere Aspekte, die in den letzten Jahren auch sehr wichtige waren, war "Nichts über uns ohne uns", also, dass Menschen mit Behinderungen am besten wissen was sie brauchen und nicht nicht behinderte Menschen das wissen. Und das bedeutet aber auch, dass wir uns intern natürlich eine Struktur geben müssen, die das abbildet. Das heißt, wir haben dafür gesorgt, dass es in der Satzung jetzt festgeschrieben ist, dass Menschen mit Behinderung zumindestens  mit 50% im Vorstand sein müssen. Wir legen fest, dass Projektleitungen idealerweise von Menschen mit Behinderung gemacht werden sollten, wir legen fest, dass Workshops von Menschen mit Behinderung gegeben werden sollten und nicht von Menschen ohne Behinderung. Das klappt nicht immer, ist aber unser Anspruch. Und jetzt langsam kommen wir zu der Erkenntnis, und das ist glaube ich auch etwas, dass uns so momentan noch einzigartig macht, dass wir glauben, mit Freiwilligkeit kommen wir an bestimmten Stelle nicht weiter. Immer dieses Leuchtturmprojekt zu sein und immer an die Freiwilligkeit zu appellieren, mit guten Beispiel voranzugehen, das wird am Ende die Teilhabe behinderter Menschen nicht erwirken. Wir haben es ja auch in anderen Bereichen gemerkt: Unternehmen reduzieren nicht freiwillig den CO2 Ausstoß, Unternehmen beschäftigen nicht freiwillig gleichberechtigt Frauen in Führungsetagen, Unternehmen machen nicht freiwillig Brandschutz, wenn es nicht gesetzlich festgelegt ist. Das heißt, wir glauben, dass auch eine Wirkung einer Onlinekarte, wie die Wheelmap, die Barrierefreiheit von Nachbarschaften aufzeigt, nur bedingt stark ist, also die Wirkung ist bedingt. Nur weil man jetzt sehen kann, dass die Apotheke nebenan nicht barrierefrei ist, hat nicht dazu geführt, dass die Apotheke freiwillig barrierefrei wurde. Das heißt: Hier muss jetztwahrscheinlich mit Anwälten oder mit neuen Gesetzen dagegen vorgegangen werden.

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00:09:17: M: Raul, du hast jetzt hier auch ein Stichwort genannt, dass wir auch in einer vorherigen Podcastfolge hatten: Inspiration inclusive, wo es um Disabilitymode ging und auch der ganze Gedanke, der dahinter steckte. Ich möchte jetzt noch mal auf das eingehen, was ich eingangs gesagt habe. Wir wissen die UN-Behinderten-Konvention ist ja 2009 ratifiziert worden und alle Mitgliedstaaten haben sich verpflichtet im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles dafür zu tun, um eben Menschen mit Behinderungen und Einschränkungen eine vollumfängliche Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Warum ist das aber auch für Menschen wichtig, die nicht unmittelbar von Barrieren in ihrem Alltag betroffen sind, nach deiner Meinung?

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00:10:01: R: Ja, also wir können uns ja mal umsehen in euren Wohnungen, was da so an Sachen rumliegt. Ihr habt vielleichte eine elektrische Zahnbürste, ihr benutzt ein Smartphone mit FaceTime oder Siri oder Google Assistent, ihr hat eine Alexa im Wohnzimmer stehen, auf dem Nachttisch liegt ein Kindle oder ein eBook und das sind alles Technologien, die erfunden wurden um Menschen mit Behinderung das Leben zu erleichtern. Für Menschen mit Sehbehinderung gab es eBooks, bei denen die Idee war, dass man dort die Schrift größer machen kann und das letztendlich auch theoretisch vorlesen lassen kann, wenn die Schrift einmal digitalisiert ist. Die Alexavorgänger sind Sprachcomputer gewesen für Menschen, die motorisch so eingeschränkt waren, dass sie nur mit der Stimme ihr Telefon oder den Fernseher bedienen konnten. Und das wurde jetzt einfach immer weiterentwickelt, so dass es inzwischen einem im wahrsten Sinne des Wortes hinterhergeschmissen wird, von manchen Anbietern. Und das Ganze wird auch erst dann gut, sobald es Mainstream ist, weil der Markt einfach groß ist und dann plötzlich auch ein kommerzielles Interesse dahinter steckt. Und wir würden uns aber selber nicht als behindert definieren, wenn wir diese Geräte benutzen. Ich beobachte gerade ein ganz spannende neues Phänomen: Diese In-Ear-Kopfhörer, diese ihr Earbuns oder Airpods, das ist einem Hörgerät ziemlich nah. Und wir fangen jetzt an mit Noise-Cancelling und so, uns auch noch von der Umwelt abzuschotten, wir simulieren also quasi Gehörlosigkeit in Orten, wenn es laut ist. Und das heißt, die Grenzen von Behinderung sind fließend. Es wird auch immer wieder neu verhandelt als Gesellschaft. Eine Brille gilt nicht mehr als sehbehindert, sondern das ist für viele Leute auch ein Modeaccessoire geworden oder die Earpods. Und ich glaube, dass ganz viel Innovationspotenzial im Leben mit Behinderung stecken kann. Also wie gestalte ich Prozesse so, dass sie nicht nur funktionieren, sondern dass sie sich auch gut anfühlen und, dass sie vielleicht unser Leben wirklich erleichtern.

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00:11:58: J: Ist das vielleicht auch eine Aufgabe von deinem Verein Sozialhelden e.V. solche Prozesse voranzubringen? Und vielleicht da noch mal, wir haben das jetzt zwar ein-, zweimal angesprochen, aber dass du vielleicht auch noch mal ganz kurz vielleicht auch an so einem Beispiel erzählst, was ihr genau macht bei Sozialhelden. Und: Wer ist "wir" überhaupt? Wie viele seid ihr? Dass du da vielleicht darüber noch mal ein, zwei Sätze erzählst.

00:12:15:  R: Also wir sind 26 Leute, davon haben wir zehn Menschen mit Behinderungen und der Rest ist in der Regel entweder teilweise mit Behinderung oder ohne Behinderung. Und wir haben verschiedenste Projekte und in jedem Projekt stecken Projektleiter_innen, die dann meistens eine Behinderung haben. Und wir arbeiten dann in Teams an verschieden Problemlösungen. Und ein Projekt, dass ich ganz gerne als Beispiel zeigen möchte ist: Mit der Wheelmap haben wir angefangen, das war 2010, die Onlinekarte für rollstuhlgerechte Orte. Damals sehr anspruchsvoll, inzwischen habem wir uns daran gewöhnt, aber letztendlich ist die Technologie dahinter relativ trivial. Also man legt eine Onlinekarte an und auf die kann man Pins setzen, ob sie zugänglich sind oder nicht. Das Café, Restaurant, was auch immer. GoogleMaps für Rollstuhlfahrer könnte man platt sagen. Und dann haben wir uns irgendwann aber die Frage gestellt: Könnte man nicht mit diesem Ansatz noch was ganz anderes machen? Und dann saß ich im Zug und blätterte diese Bahnzeitschrift Medimobil - kennt ihr die?

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00:13:14: M: Ja. J: Ja.

00:13:23: R: Und dann dachte ich: "Wann hast du eigentlich zuletzt in einer Zeitschrift geblättert?" und dann dachte ich: "Ah, Fernsehzeitschrift war das letzte, durch das ich geblättert habe. Und dann fragte ich mich: Wie informieren sich eigentlich blinde Menschen, was im Fernsehprogramm mit Audiodiskription zur Verfügung steht? Was gibt es denn da an Informationsangeboten? Oder wie finden gehörlose Menschen Sendungen mit Untertiteln? Gut, gehörlose Menschen kaufen sich eine Fernsehzeitschrift oder gucken auf TVMovie.de oder keine Ahnung was, nach dem Symbol UT für Untertitel. Blinde Menschen können das schon gar nicht mal so einfach, auf einer eine Website nachgucken, weil dafür die Website barrierefrei sein muss. Und eine Zeitschrift schließt sich für blinde Menschen auch aus und dann dachte: "Ok, wo kommt denn eigentlich dieses Symbol in der Fernsehzeitschrift her? Wo kommen überhaupt Fernsehprogrammdaten her?" Und dann stellt sich heraus, es gibt natürlich einen Markt dafür. Die Zeitschriften kaufen diese Daten ein und da haben wir gesagt: "Okay, lass uns doch diese Daten auch einkaufen und eine Suchmaschine bauen, bzw. Programmzeitschrift für Blinde und Gehörlose, wo die gucken bzw. sagen können: "Zeig mir nur Sendungen mit Untertiteln!" oder "Zeig mir nur Sendungen mit Audiodiskription!" Und heraus kam die Website "TVfüralle.de, wo ich mir jetzt praktisch anzeigen lassen kann, was ich konsumieren kann, wenn blind oder gehörlos bin. Und gleichzeitig aber auch eine politisches Tool geworden ist, weil wir anzeigen, wie viel Prozent des Gesamtprogramms überhaupt Untertitel oder Audiodiskription haben. Von 100 Sendung haben dann drei Sendungen Audiodiskription. Und diese Menschen, die auf Audiodiskription angewiesen sind, die bezahlen aber trotzdem den Rundfunkbeitrag. Und da findet dann letztendlich eine Diskriminierung statt und das mit Technologie auch aufzuzeigen und gleichzeitig aber auch nutzbar zu machen für Menschen mit Behinderung, die darauf angewiesen sind, das zu finden, war dann unser Anspruch. Und dann musst du eine Website bauen, die für blinde Menschen funktioniert, und zwar so, dass barrierefreifirst gedacht ist. Also die Webseite muss erst für Blinde funktionieren und dann für Sehende. Und dann auf einmal denkt man die Dinge ganz anders. Und das hat für mich ganz viele, neue Erkenntnismomente erzeugt, einmal: Okay, wie findest du eigentlich blinde Programmierer_innen? Wie stellst du sicher, dass die Daten überhaupt akkurat sind? Und was für eine politische Dimension steckt eigentlich dahiner? Warum sind die privaten Sender nicht verpflichtet?

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00:13:38: M: Man spricht ja auch immer davon, dass es generell wichtig ist - ich setze es in Anführungsstriche - "die Barrieren in den Köpfen abzubauen." Und da würde mich jetzt interessieren, Raul, wie du zu dieser Aussage stehst und wessen Aufgabe es eigentlich ist diese Barrieren in den Köpfen abzubauen?

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00:15:54: R: Ich habe ein großes Problem mit diesem Satz "Die Barrieren in den Köpfen abbauen", weil es erstmal davon ausgeht, dass es Barrieren in den Köpfen gibt. Und damit tue ich, glaube ich, vielen Menschen Unrecht. Also ich glaube nicht, dass mein Nachbar oder meine Nachbarin aufgeklärt werden muss, dass Menschen mit Behinderung auch Menschen sind. Und wenn sie meine Nachbarin oder mein Nachbar ist, dann wird sie nach einem Jahr spätestens das Gespräch irgendwie suchen oder eben auch nicht suchen, wie bei jedem anderen auch. Aber ich glaube, dass die Barrieren in den Köpfen nur sinken oder abgebaut werden können durch die permanente Begegnung. Wenn wir aber sagen: "Wir müssen erst die Barrieren den Köpfen abbauen, bevor wir irgendwas anderes machen", dann verschließen wir uns ein bisschen der Frage "Warum findet eigentlich keine Begegnung statt?" Und die Begegnung findet oft deswegen nicht statt, weil Wohnraum nicht barrierefrei ist, weil Schulen nicht barrierefrei sind, der ÖPNV, das Fernsehen, was auch immer. Das alles ist nicht barrierefrei und dadurch werden Begegnungen verhindert und diese Begegnungen brauchen wir aber, um die Barrieren in den Köpfen zu senken. Es bringt Nichts meine Nachbarin davon zu überzeugen, dass Kinder mit Behinderung ein Recht auf Regelschule haben, weil meine Nachbarin gar nicht das Mandat hat das zu ändern. Sondern, die Organisation, die das ändern könnte wäre die Schulbehörde und die tut aber nichts, sondern legt immer die Hände in den Schoß und sagt: "Ja, wir müssen erst die Barrieren in den Köpfen senken." Das ist ein Henne-Ei-Problem und das geht nicht darum einem Nazi mit einer Broschüre zu sagen: "Hör auf Ausländer zu jagen.", weil die Broschüre wird die nicht verändern, sondern das, was einen Nazi vielleicht zu einem Nicht-Nazi macht, oder einen Frauenhasser zu einem Nichtfrauenhasser, ist die Begegnung mit Frauen oder mit Menschen mit Migrationshintergrund oder mit Behinderung, aber nicht die Broschüre und nicht die Theorie.

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00:17:39: J: Dieser Aussage nach zu urteilen, ist es ja schon so, dass wir uns sensibilisieren müssen als Gesellschaft, dass wir auch diese Barrieren, die uns vielleicht selber nicht betreffen trotzdem wahrnehmen, dass wir über die Begegnung, die wir dann tagtäglich haben auch diese Dinge immer mehr thematisieren können. Welche Rolle spielt die Sprache in diesem Prozess ganz grundsätzlich?

00:17:43: R: Also Sprache ist natürlich auch immer Macht. Und wenn es z.B. heißt: "Raul Krauthausen meistert sein Schicksal", dann wird automatisch davon aus gegangen, dass mein Leben schwer ist. Oder "Raul Krauthausen leidet an irgendwas" oder "Raul Krauthausen ist an den Rollstuhl gefesselt", das sind ja alles negative Metaphern, die mir unterstellt werden, wie mein Leben sei. Ich fühle mich aber gar nicht an den Rollstuhl gefesselt, ein Rollstuhl bedeutet für mich Freiheit. Ich leide auch nicht an meiner Behinderung, ich leide eher unter den Barrieren im Alltag. Und wenn wir die ganze Zeit über nur vom Leid ausgehen und annehmen, dass behinderte Menschen oder behindertes Leben eine Qual ist, dann fangen wir nicht an uns die Frage zu stellen: Wie können wir eigentlich eine barrierefreie Gesellschaft gestalten? Und wie gesagt, ich glaube, dass es nicht darum geht behinderte Menschen in Watte zu packen oder zu schonen oder so, sondern, dass es darum geht gleiche Rechte für Menschen mit Behinderung einzuräumen, wie Menschen ohne Behinderung auch haben. Frauen wollen ja auch nicht 70% der Vorstandsposten haben, sondern 50% und es ist genau das gleiche bei Menschen mit Behinderung auch. Wir wollen nicht den ganzen Laden, wir wollen einfach den Grad, der uns zusteht und das ist z.B. 10%. 10 % der Gesellschaft hat eine Behinderung, aber nicht jeder zehnte in unserem Freundeskreis ist behindert. Und wir müssen uns die Frage stellen: Wo sind diese Ausschlüsse?

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00:19:24: M: Du hast uns jetzt hier einige Sachen genannt, also in Bezug auf Sprache, bzw. auch mit dem Begriff "Barrieren in den Köpfen abbauen", also den du ja auch aufgeschlüsselt hast, warum du das eben nicht so siehst. Mich würde interessieren, was du Menschen entgegnen würdest, die Barrierefreiheit als ein sogenanntes nice-to-have definieren. Also frei nach dem Motto "Barrierefreiheit ist super, solange sie nichts kostet."  Es ist ja auch etwas, was man im Diskurs mit der Schule auch oft hat, dass es dann heißt, die Lehrer können das nicht machen, es macht so viel Arbeit und warum soll das eigentlich so sein? Wie siehst du das?

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00:20:01: R: Also grundsätzlich ist Inklusion ein Menschenrecht. Du hast ja gerade selber die UN-Behindertenrechtskonvention als Quelle zitiert und spätestens seitdem dürfen wir diese Kostenfrage nicht stellen. Weil wir stellen die Kostenfrage auch nicht bei der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, wir stellen die Kostenfrage auch nicht bei Brandschutz. Es wird einfach gemacht oder eben nicht gemacht und wenn du es nicht machst, wirst du halt verklagt, Ende der Geschichte. Und, dass Unternehmen sagen: "Es darf nichts kosten!" ist ein unglaublich neoliberaler Gedanke, die FDP sind da ganz vorne dabei, wenn es um sowas geht. Auf der einen Seite redet sie von Freiheit, aber auf der anderen Seite darf die nichts kosten. Und stellt euch mal vor, dass ein Unternehmen sagt: "Ja okay, wir bauen Gebäude neu, aber wir lassen die Frauentoiletten weg, weil die brauchen mehr Platz als Pissoirs." Wie groß wärde denn da der Aufschrei? Und dass es teurer ist Frauentoiletten zu installieren als Pissoirs, ist ja auch klar, weil es mehr Fläche braucht. Und Fläche kostet Geld, aber wir sind gesellschaftlich an dem Punkt, wo man einfach ein Arschloch ist, wenn man so entscheiden würde. Beim Thema Behinderung scheint es aber noch völlig okay zu sein zu sagen "Gerne rollstuhlgerechte Toiletten, aber zu teuer." Warum eigentlich machen wir nicht alle Toiletten barrierefrei?

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00:21:09: J: Wie siehst du das im bezug auf beispielsweise Veranstaltungen? Das eine ist der Brandschutz und die Toiletten, da muss ich einmal eben das Geld in die Hand nehmen und das kann ich bestenfalls vorher ja auch so einplanen und dann kann ich das umsetzen. Also dein Beispiel leuchtet mir natürlich ein. Wie sieht das jetzt aus bei Veranstaltungen, wenn ich jetzt sage, auch im wissenschaftlichen Bereich gibt es ja auch viele Veranstaltungen, aber auch nicht nur da, und die kann man ja auch barrierefreier - sage ich jetzt ganz bewusst - gestalten, wenn man das denn möchte. Wo würdest du da sagen, was ist hier das richtige Vorgehen? Denn manchmal stellt sich ja auch die Frage: Habe ich das Geld, um die Veranstaltung komplett barrierefrei durchzuführen oder führe ich sie halt trotzdem durch, aber ohne einen großen finanziellen Aufwand? Was würdest du da den Leuten raten?

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00:21:57: R: Also ich würde immer versuchen Barrierefreiheit herzustellen. Ich versuche das ja auch und ich habe wahrscheinlich  ein viel kleineres Budget als ihr. Das heißt sich dahinter zu verstecken, hinter den Kosten, ist oft auch Faulheit, muss ich ganz klar sagen. Faulheit zu recherchieren, Faulheit mich darum zu kümmern, man hat es vergessen und will das nicht eingestehen. Und auch da ist man dann auch zu faul Fehler einzugestehen. Und dann bist du natürlich im zweiten Schritt und musst dir die Frage stellen: Warum gibt's dafür kein Budget? Also welche Strukturen sind dafür eigentlich verantwortlich? Warum stecken wir so wenig Geld in Bildung? Und warum funktioniert es in anderen Ländern? Warum funktioniert es in den Vereinigten Staaten von Amerika? Gut, die haben ganz andere Probleme, auch was Bildungsgerechtigkeit angeht. Ich meine, wir leisten uns ja im universitären oder wissenschaftlichen Kontext auch einen unglaublich Proporz auf der einen Seite. Schöne Bibliotheken, Forschungsprojekte, Forschungsvorhaben, wo man auch die Frage stellen kann: Wie sinnvoll, sinnhaft ist das eigentlich alles? Oder, wenn wir sagen: Auch dann reicht es nicht. Dann: Aber da gibt es einfach so strenge Antidiskriminierungsgesetze, so dass ich im Zweifel meine Uni auch verklagen kann,wenn der Unterricht nicht barrierefrei ist. Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass in der Beteiligung von Menschen mit Behinderung, gerade im wissenschaftlichen Bereich,auch ein unglaubliches Innovationspotenzial stecken kann, also andere Perspektiven. Gründe, warum Dinge erfunden werden, ist ja oft ein behindertes Leben. Also vom Treppensteigen im Rollstuhl über die Untertitel, Technologien, automatische Spracherkennung, das sind ja nur ein paar Beispiele.Das sind ja alles Technologien, wie ich ja schon gesagt habe, die ursprünglich mal erfunden wurden für Menschen mit Behinderungen. Und plötzlich freuen wir uns, dass beim japanischen Film auf Netflix deutsche Untertitel existieren und diesen Wert darf man auch nicht unterschätzen. Und da will ich auch gern zu meinem nächsten Punkt kommen und zwar das Thema Forschung. Wissenschaft und Forschung. Ihr seid ja auch ein Podcast aus dem universitären Kontext. Was ich wirklich zunehmend anstrengend finde, ist, wie wir Menschen mit Behinderung auch ausgeforscht werden. Also ich bekomme jeden Tag fünf bis zehn E-Mails von Studierenden, deutschlandweit aus irgendwelchen Bachelor- oder Masterstudiengängen, die irgendwas mit Heilerziehungspflege oder so machen, die unbedingt mal mit einem "echten Behinderten" reden wollen und von ihren Universitäten scheinbar auch auf mich los gehetzt werden: "Frag doch mal den Raul Krauthausen!" Ich bekomme so oft gespiegelt von Studierenden, dass Texte, die ich schreibe; Projekte, die ich mache; Interviews, die ich gab vom 1. bis zum 10. Semester Bestandteil des Unterrichts sind. Und ich habe kein einziges Mal Geld von irgendeiner Universität gesehen, dafür, dass sie mein Material benutzen. Und dann schicken die noch ihre Studierenden zu mir, dass ich ihnen ehrenamtliche Rede und Antwort stehen, um deren nichtbehinderte Karrieren zu begründen und zu rechtfertigen, damit sie später damit Geld verdienen können, weil sie für Behinderte was machen. Und, dass kein einziges Mal ein Mensch mit Behinderung in der Fragestellung involviert wurde, also in der Fragestellung: "Was wollen wir eigentlich herausfinden in unserer wissenschaftlichen Bachelor- oder Masterarbeit? Dassmeine Zeit nicht entlohnt wird von der Uni dafür, dass ich ständig Rede und Antwort stehe, im Gegenteil der nichtbehinderte Dozent  weniger Arbeit vielleicht sogar hat. Und wenn ich dann sage: "Ich will dafür aber Geld haben", dann geben die mir 50 €. Dann denke ich so : "Fuck you! Das ist noch nicht mal mein Stundenlohn und schon gar nicht, wenn ich zehn Stunden habe vorbereitet habe, um am Ende 50 Euro dafür zu bekommen." Ne, ich glaube wir müssen viel mehr die Frage stellen: Warum gibt es so wenig Studierende mit Behinderung, die an einer  Fragestellung mitwirken können? Warum gibt es so wenig Dozenten mit Behinderung, die vielleicht von vornherein den Studierenden auch sagen: "Du, stell diese Frage dem Raul Krauthausen lieber nicht. Der hat die nämlich schon 400.000 mal woanders beantwortet. Und verdammt nochmal, google vorher!"

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00:25:46: J: Das wäre dann ja auch so ein Punkt mehr Begegnung zu initiieren, das ist ja vielleicht auch ein Versuch eine Begegnung zu schaffen, wo wir jetzt auch ein ganz klares Statement von dir gehört haben: "So bitte nicht."  Was wäre denn eine Alternative? Oder wo fängt das ganze Dilemma an, wenn ich mir beispielsweise Schule auch einmal anschaue, wo ganz sorgfältig dafür gesorgt wird, dass man möglichst nicht Kontakt mit behinderten Menschen bekommt, die alle schön aussortiert werden. Also jeder, der nicht ins System passt, wird gesondert behandelt. Und viele Menschen haben ja vielleicht bis zu ihrem Studium einfach dadurch auch keinen Kontakt mit Menschen mit Behinderung. Aber vielleicht noch mal ganz konkret: Was würdest du jetzt den Studierenden dann sagen? Also: "Google doch mal!", war ja gerade etwas. Wie können dann noch mehr Begegnungen geschaffen werden?

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00:26:23:  R: Also klar, wir müssen im Bildungsbereich vielmehr für Inklusion sorgen. Wir müssen Karrierechancen aufmachen für Menschen mit Behinderung. Das kann der oder die Studierende sicherlich in dem Moment nicht lösen. Rechtfertig aber nicht, dass man trotzdem so weitermacht, wie bisher. Dann macht was anderes, dann stellt andere Forschungsfragen. Stellt zum Beispiel mal die meine Frage, warum nicht behinderte Menschen so große Berührungsängste haben und redet mal mit den Nichtbehinderten. Frag die doch mal aus, was eigentlich deren Problem ist. Warum muss ich immer mutmaßen und dann der "Go-to-Behinderte" sein, der sagt warum die Nicht-behinderten Berührungsängste haben. Ich habe da eine Meinung und ich habe das bestimmt auch Erfahrung, aber ich spüre diese Berührungsängste ja nicht, weil ich bin ja behindert. Also ich wünsche mir einfach ein bisschen mehr Reflektion auch in dem Bereich. Und es ist ja nicht so, dass ich jedem nichtbehinderten Studierenden, der eine Frage an mich hat, wegen mir anbrülle oder so. Ich bleibe ja nett  und ich gebe ja auch viele Interviews nach wie vor, wenn ich die Fragestellung interessant finde. Ja, dann macht euch auch interessant und reflektiert auch über die Strukturen. Und ich glaube, wir können da ganz viel lernen, auch aus der Black Lifes matter Bewegung, weil da nämlich auch, spätestens seit dort, auch schwarze Menschen in Deutschland sagen: "Verdammt noch mal, informiert euch vorher, bevor ihr uns jedes Mal die gleichen Fragen stellt. Wir sind nicht eure interlektuellen Putzkräfte, die hinterher fegen, sondern es ist alles schon 1000-fach in Büchern  geschrieben worden, in Kameras gesagt, in Mikrofone gesprochen. Recherchiert erst! Googelt erst!"

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00:28:04: M: Also Stichwort dann auch partizipative Forschung, was wir auch in unserer ersten Podcastfolge hatten. Wenn wir jetzt zum Thema Corona kommen: Die jetzige Pandemie. Man hat in den Medien das zwar gehört stellenweise, aber unterschiedlich verstärkt, dass bestimmte Personengruppe, nicht genug berücksichtigt wurden. Ich persönlich empfinde hier auch recht selektive Berichterstattung diesbezüglich, also Kinder oder Jugendliche wurden da häufiger genannt. Raul, welche Probleme wurden hier für dich noch einmal ganz deutlich bzw. sichtbar? Also einerseits auch vielleicht in der Medienberichterstattung oder ganz generell im Zuge der Pandemie?

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00:28:30: R: Also, was mir klar wurde war, dass innerhalb der Politik und der Verwaltung und auch der Medien überhaupt kein Bewusstsein dafür existiert, dass Menschen mit Behinderung nicht nur in Einrichtungen und in Heimen Leben. Sondern größtenteils auch zu Hause in den eigenen vier Wänden. Und das in der Impfpriorisierung, bei Tests und bei dem Thema Risikogruppen und all die ganzen Wörter, die es da gab, kein Verständnis dafür herschte, dass es nicht reichte Menschen in Einrichtungen zu impfen und zu testen, sondern eben auch die Menschen, die nicht in Einrichtungen leben. Und dass die wahrscheinlich sogar die Mehrzahl darstellen, dass es auch gar kein Bewusstsein der Medien überdieses Erleben in den eigenen vier Wänden gibt, wie sich Menschen zu Hause isoliert haben für anderthalb Jahre fast und aus Angst sich anzustecke, findet gar nicht statt. Und stattdessen fragen Journalist_innen oder Podcaster_innen immer die gleiche Frage, so was wie: Ob die Digitalisierung, die wir jetzt durch Corona erlebt haben, nicht auch eine Chance für Menschen mit Behinderungen ist. Dahinter steckt immer, ich weiß noch nicht genau, wie ich das in Worte packen soll, aber dahinter steckt oft so dieses,dass die nicht behinderte Mehrheitsgesellschaft sich gut fühlen möchte, weil wir alle jetzt die Digitalisierung und damit das Leben der Mensch mit Behinderung verbessert haben. Und sie wollen nicht hören, wo sie behinderte Menschen aktiv vergessen und ausgeschlossen haben. Die wollen nicht hören, dass Menschen mit Behinderung seit mindestens zehn Jahren nach dieser Digitalisierung geschrien haben, Home-Office-Möglichkeit, E-learning und so weiter. Und jetzt, wo es auf einmal alle müssen, geht es plötzlich und zwar innerhalb von drei Tagen. Und wie kann das sein, dass es vorher immer als unmöglich dargestellt wurde? Oder jetzt, ganz neue Erzählung: Die Digitalisierung bietet ja so viele Teilhabemöglichkeiten für behinderte Menschen. Das heißt: Unternehmen gehen jetzt demnächst alle wieder zurück ins Büro und die Behinderten dürfen dann am digitalen Katzentisch mitmachen. Und wir stellen uns wieder nicht die Frage: Wie können wir das Büro barrierefrei machen? Wie können wir da auch Zugänge machen? Wie können wir behinderten Menschen die Möglichkeit geben genauso die Wahl zu haben, ob sie Home-Office machen wollen, E-Learning machen wollen, Home-Schooling machen wollen oder in die Schule oder ins Büro gehen wollen. Stattdessen wird gesagt: "Naja, dafür haben wir jetzt Zoom." Nein! Dafür haben wir nicht Zoom für die Behinderten! Also ich glaube und das ist bisschen auch wirklich wie bei der Black Lifes matter Bewegung, dass die nicht behinderten Menschen es nicht gerne haben zu spüren, wo sie behinderte Menschen wieder ausgeschlossen haben, jahrzehntelang, jahrelang oder jetzt wieder. Und das ist bei weißen Menschen und PoCs genauso, da gibt es dann so die sogenannte white fragility, dann versuchen das zu rechtfertigen. Sich irgendwie rechtfertigen indem sie sagen: "Ja, aber wir haben doch wirklich schon viel erreicht. Mein Nachbar ist auch schwarz" und solche Sätze sagen. Und ich denke: "So was heißt gar nichts! Du kannst trotzdem ein Arschloch sein!" Sorry, wenn ich so drastisch rede, aber mir geht's manchmal echt gegen den Strich, dass ich immer diesen Erklärbär machen muss. Jetzt nichts gegen euch, sondern einfach in der Gesellschaft und ich freue mich, dass ich das hier mal sagen darf.

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00:31:46: J: Ja, also gerne. Das nehmen wir auch mit und das verstehen unsere Zuhörer_innen ja auch hoffentlich als Appell. Also ich habe hier auf jeden Fall schon den ein oder anderen Appell mitgenommen. Du hast auch die Nachfolgefrage schon so halb beantwortet. Also, dasmit ar ein bisschen die Frage auf: Ja, was ist denn die Digitalisierung jetzt eigentlich? Eher der Heilsbringer, wie ihn ja viele so nennen und den du ja gerade auch so gesagt hast. Oder ist es eben eine weitere Barriere und das hast du ja auch gerade schon ein bisschen zur Sprache gebracht: Ja okay, jetzt haben wir wieder eine exklusive Insel für die Behinderten, die da jetzt an dem digitalen Katzentisch - so hast du es genannt - sitzen dürfen und hier so ein bisschen mitmachen können. Deswegen würde ich meine Frage vielleicht noch mal bisschen ausweiten, weil wir ja auch immer von Unternehmen sprechen, die jetzt wieder das Homeoffice zurücknehmen wollen. Gerade heute in den Medien war es ja wieder: Bleibt das jetzt ein Recht oder soll es nur als Option angeboten werden oder so? Welche Rolle nimmt die Privatwirtschaft ein in diesem Prozess der Barrierefreiheit? So ganz grundsätzlich, jetzt natürlich in Bezug auf diese konkrete Digitalisierung? Müssen wir da die Privatwirtschaft irgendwie ein bisschen mehr rannehmen oder verpflichten, dass sie sich stärker für Barrierefreiheit einsetzt? Und: Gibt es besondere Bereiche, besondere Branchen, die das vielleicht schon ganz gut machen und welche, die es vielleicht noch nicht so gut machen?

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00:33:05: R: Wir kommen nur zu einer Gerechtigkeit, wenn wir die Privatwirtschaft verpflichten. Das darf nicht nur einzelne Branchen betreffen, sondern es muss für alle gleichermaßen gelten. Ich nehme da immer ganz gerne als Beispiel den Zeitungskiosk im U-Bahnhof. Der Zeitungskiosk im U-Bahnhof muss ja auch Brandschutzmaßnahmen erfüllen. Wenn das freiwillig wäre, dann würde er das nicht machen, weil das ist ein richtiger Scheiß einen Kiosk im der U-Bahnhof brandschutzsicher zu machen. Da es aber alle müssen gibt es kein Wettbewerbsnachteil, weil das gilt ja für alle Kioske in allen U-Bahnhöfen. Und dadurch, dass das so ist gibt es auch einen Markt. Und zwar für Lösungen. Und da entsteht dann Innovation. So, und genau das Gleiche ist es auch mit Aufzügen, genau das Gleiche ist es mit Untertiteln. Seitdem wir alle Netflix gucken, ist natürlich die ganze Wissenschaft da dran, sich zu überlegen, wie man die Untertitel automatisch mit Spracherkennung hinbekommt. Und das wäre vorher gar nicht gegangen. Also entweder wenn der Markt groß genug ist, passiert das von selbst oder aber da, wo der Markt am Anfang nicht groß genug ist, denn nur 10% der Gesellschaft betrifft nämlich Menschen mit Behinderung, dann muss es reguliert werden. Und so ist es beim Brandschutz auch. Niemand hätte das freiwillig gemacht, weil es brennt ja kaum.

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00:34:05:  M: Ich nehme jetzt auch tatsächlich auch noch mal für mich mit, dass einerseits diese Verlagerung des Problems, quasi. dass man denkt: "Man hat jetzt eine Lösung gefunden" und dann sagt: "Ja, jetzt brauchen wir die Lösung nicht. Wir nehmen alles wieder zurück" und dann auch wieder die Erkenntnis zu sagen: "Das, was geschaffen wird, kommt so vielen Menschen zu gute." Also , ich erinnere mich an einen kleinen Schwenk aus meinem Leben mit einem riesigen Kinderwagen und ich war schon verzweifelt war, weil ich nicht wusste, wie ich da hoch komme, weil der Aufzug nicht ging oder ich nicht ins Café konnte. Das war dann auch so eine kleine Bewusstseinsmachung. Und ich hoffe, dass wir dazu beitragen können zumindestens jetzt in unseren universitären Umlauf, dass wir eben nicht am digitalen Katzentisch  mitmachen, sondern, dass wir es eben schaffen hier auch eine Öffnung zu kreieren. Und deswegen, Raul, ich wollte dich auch noch mal fragen, das ist unsere Abschlussfrage, die wir immer am Ende an unsere Gäste stellen und zwar: Mit welchen Menschen wäre es aus deiner Sicht s_innvoll Zeit zu verbringen? Also was ist ein Mensch, den unsere Hörer_innen kennenlernen sollen?

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00:35:16: R: Gute Frage. Mal ganz ehrlich, also jetzt nicht als Person, aber redet viel mehr mit den marginalisierten Gruppen. Redet mehr mit Menschen, die nicht stattfinden, die nicht weiß sind, die nicht heterosexuell sind, die nicht studieren gehen,die eine Behinderung haben, die einen Migrationshintergrund haben, die vielleicht einen anderen Bildungsgrad haben. Weil,  wenn man diese Perspektiven ernst nimmt, dann können ganz neue Lösungsansätze entstehen. Ich hatte einmal ein sehr spannendes Gespräch mit Markus Vettern. Und Markus Vetter ist Filmemacher und der hat die Reportage gemacht, die immer in der ARD lief, über das Davos-Wirtschaftsforum. Der hat dann in dem Gespräch mir erzählt, dass er große Fragezeichen inzwischen hat, ob es wirklich sinnvoll ist die Eliten der Welt an einen Ort zu bringen, um die Probleme der Welt zu lösen. Müsste man nicht eigentlich die Marginalisierten der Welt an einen Ort bringen, um die Probleme der Welt zu lösen? Also, warum die Eliten? Und da hat er Recht. Und wir interviewen uns quasi über die eigene Nase, wir interviewen uns in unserem eigenen Podcast viel zu sehr selbst. Und du hast vorhin selber und marina Kinder erwähnt, ne? Mit Kindern redet ja niemand heutzutage. Wir diskutieren die Corinna-Pandemie und Schulöffnung und so weiter ausschließlich aus der Perspektive der Wirtschaft. Wir sollen die Schulen öffnen damit Eltern wieder arbeiten gehen können, aber nicht damit Kinder ihre Freunde treffen oder damit Kinder irgendwie, keine Ahnung, nicht mehr einsam sind. Das wird vorgeschoben als Grund, aber in Wirklichkeit geht es um die Wirtschaft. Und da gab es einen ganz, ganz tollen Podcast, den ich gehört habe - den muss ich mal raus suchen, ich weiß gar nicht mehr wie der hieß - aber da wurde ein Schulpsychiater interviewt. Und der Schulpsychiater hat gesagt, dass er es hoch problematisch findet, dass die Gewalt zu Hause, die Kinder erleben, benutzt wird als Argument für Schulöffnung, weil wir nämlich genauso ernst die Gewalt in der Schule diskutieren müssten. Und dass es auch ganz, ganz viele Kinder gibt, die gerade ausatmen konnten, weil sie nicht zur Schule mussten, weil sie nicht den Druck erlebt haben, da sie nicht gemobbt wurden, gehänselt oder auf dem Schulweg verprügelt oder auf dem Schulhof, die vielleicht nicht diese Leistungsdruck ausgehalten haben, dass für die das eine große Erleichterung auch war oder gewesen sein konnte. Und wenn es uns wirklich um das Wohl der Kinder geht, wir beides immer beachten müssen. Und mit Kindern wird viel zu wenig gesprochen.

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00:37:42: J: Ja, lieber Raul, vielen Dank für dieses schöne Antwort auf diese Frage. Gerade mal die Perspektive außerhalb der eigenen Blase, der eigenen Bubbel mal einzunehmen, ist glaube ich etwas, was sehr wertvoll sein kann. Und das passt ganz gut zu einem Zitat was ich heute auch gelesen habe: "Wenn man schon immer Privilegien hatte fühlt sich soziale Gerechtigkeit oft als Nachteil an" und ich finde, das passt auch so ganz gut in diese Richtung. Und ja, mir bleibt jetzt leider nichts anderes übrig als mich von dir zu verabschieden. Vielen Dank, dass du bei uns warst. Das war es mit unserer Folge s_innzeit. Alle Informationen und Links zur heutigen Folge findet ihr in der Beschreibung. Lasst uns gerne ein Like da und abonniert uns, wenn ihr es nicht schon getan habt. Folgt uns gern auch auf Instagram unter transfernetzwerk.s_inn. Am 26 Juli kommt die nächste Folge raus und dort sprechen wir mit Mick Prinz von der Antonio-Amadeus-Stiftung. Dort wird es um die Themen Gaming, Rechtsextremismus und Netzkultur gehen. Bis dahin: Nutzt eure Zeit s_innvoll! Tschüss!

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00:38:39:  R: Tschüss! M: Tschüss.

00:38:43: Music.

Über diesen Podcast

Soziale Ungerechtigkeit, spannende Konzepte aus der Wissenschaft und innovative Lösungsansätze für soziale Herausforderungen – all das behandelt s_innzeit, der Wissenschaftspodcast von s_inn!

https://www.s-inn.net
sinnzeit@katho-nrw.de

von und mit Marina-Rafaela Buch, Jens Koller, Sinem Malgac, Stephan Post, Ariadne Sondermann, Lisa Koopmann

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